Es ist natürlich auch etwas kokett, wenn man zu einer neuen Komposition in der Unterzeile gleich noch eine Gattungsinnovation behauptet. Wie Robert Wilson seine "Operetta", so würde Pascal Dusapin sein neuestes, im Grand Théâtre de Provence uraufgeführtes Werk am liebsten "Operatorium" nennen, wie er sich im Programmheft zitieren lässt. Dort zieht man sich mit der Unterzeile "Création Mondiale" aus der Affäre, wobei natürlich jede echte Uraufführung eine für die ganze Welt ist. Aber das ist ganz nebensächlich, denn Regisseur Claus Guth lässt keinen Zweifel daran, dass wir hier ein besonders gelungenes Exemplar von Oper - oder vielleicht besser Musiktheater? - vor uns haben. Wie dem auch sei: Es ist ein Volltreffer von der Art, wie er hier in Südfrankreich, beim wichtigsten Musikfestival des Landes, ab und zu eben auch mit einer Uraufführung gelingt. Katie Mitchells Inszenierung von George Benjamins Written on Skin vor zehn Jahren war so ein Paradebeispiel.
Dusapin war in Aix-en-Provence auch schon mal mit von der Partie. Sein Debüt gab er 2018 im intimen Théâtre du Jeu Paume mit Passion. Diesmal hatte er nicht nur die größte Bühne der Festspiele, sondern mit dem Regisseur Claus Guth und dem Dirigenten Kent Nagano auch zwei ausgewiesene Protagonisten für die musikalische und szenische Umsetzung von Novitäten an seiner Seite. Alle gemeinsam (nicht zu vergessen Etienne Pluss für die Bühne, Gesine Völlm für die Kostüme und rocafilm für die Videos) boten - allen Unkenrufen über das Ende der Gattung Oper zum Trotz - ein Gesamtkunstwerk, bei dem alles stimmte und das auch das Publikum packte.
Es ist inspiriert von einer Vorlage, die zum literarischen Kern des europäischen Selbstverständnisses gehört. Dantes Göttliche Komödie, die Divina Commedia, gehört nicht nur für die Italiener noch 700 Jahre nach dem Tod des Dichters unzweifelhaft dazu. Sie dient aber auch als Anregung für Komponisten, vor allem wenn sie wie Dusapin eine Affinität zur Literatur haben. So wie für Goethe etwa, dem Dusapin mit seiner 2006 an der Berliner Lindenoper uraufgeführten Oper Faustus, The Last Night folgte. Oder wie Shakespeare, auf den der vor drei Jahren in Brüssel uraufgeführte Macbeth Underworld zurückgeht.
Für zeitgenössische Komponisten ist eine Uraufführung im sommerlichen Südfrankreich auch deshalb reizvoll, weil es sich immer um Koproduktionen handelt. Damit ist zumindest schon mal die erste Verbreitungsrunde gesichert. An Nachinszenierungen fehlt es ja leider selbst gefeierten Uraufführungen heutzutage oft.
Aus Dantes Vita Nova und eben der Divina Commedia hat Frédéric Boyer das italienischsprachige Libretto für einen knappen Prolog und sieben Bilder destilliert. Giacomo Prestia führt wie ein Conférencier durch den Wechsel der Bilder. Die haben Übertitel wie Abreise, Lieder der Trauer, Vorhölle, neun Kreise der Hölle, Fegefeuer und natürlich Paradies. Sie verweisen damit auf den inhaltlichen Reiseführer für den Selbsterfahrungstrip, auf den Guth einen Intellektuellen mittleren Alters von heute schickt. Der Komponist hatte da eine Mezzostimme vor dem inneren Ohr, sein Librettist einen markanten Bariton. So einigte man sich auf zwei Dantes. Den einen, der im beklemmend atmosphärischen Anfangs-Video einen schweren Unfall im Wald hat, von dem er schwerverletzt ins häusliche Arbeitszimmer zurückkehrt und den Jean Sebastian Bou stimmlich und darstellerisch hochüberzeugend verkörpert. Und einen jungen Dante, der wie ein Alter Ego an das frühe Verschwinden jener Beatrice erinnert und dem Christel Loetzsch ihren wohltimbrierten Mezzo und eine überzeugende Erscheinung zur Verfügung stellt.
Beatrice (Jennifer France) taucht in einem roten Kleid immer wieder als Vision und leibhaftig vor deren Augen auf. Kurz bevor Dante am Ende stirbt, kommt sie ihm noch einmal sehr nahe. Die Inszenierung vertraut dem Lichtsog des Paradieses wohl doch nicht so unausweichlich, obwohl Guth gerade dafür ein beeindruckendes Bild findet. Hier bewegen sich Gestalten im weit geöffneten Raum, in dem die Reise absolviert wird, in Zeitlupe auf ein Licht zu, das von der Seite einfällt. Man denkt unwillkürlich an den Sturm vom Paradiese her, den Walter Benjamin im Angelus Novus von Paul Klee erkannte.
Wenn Dantes Reise beginnt und sich die Wand seines Zimmer teilt, wir die Vorhölle passieren (ein Wartesaale für Verzweifelte, die sich nicht mehr normal bewegen können) und schließlich die Kreise der Hölle durchschreiten, ist Virgil (mit Wanderstab und geschmeidigem Bass: Evan Hughes) immer an seiner Seite. Einen ungewöhnlich extravaganten Auftritt hat der sich bis ins kunstvolle Kreischen steigernde Dominique Visse als Stimme der Verdammten.
Dusapin hat eine gleichsam großformatig atmende Musik geschrieben, die Kent Nagano mit dem Orchester der Oper Lyon präzise und atmosphärisch packend zum Klingen bringt. Sie bietet auch für alle Protagonisten und den von Richard Wilberforce einstudierten Chor der Oper Lyon reichliche Steilvorlagen für virtuosen Gesang.
FAZIT
Mit Il viaggio, Dante von Pascal Dusapin kann das Festival von Aix-en-Provence eine spektakuläre Uraufführung für sich verbuchen. Der verdiente Jubel für alle war im vollbesetzten Auditorium ungeteilt.
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