Auf der Suche nach den mildernden Umständen
Von Roberto Becker
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Fotos von Bernd Uhlig
Dass die Regisseurin Andrea Breth wie im Schauspiel, so auch in der Oper eine Art psychologischer Tiefenschürfung betreibt, ohne dabei das Stück, das sie sich vornimmt, so zu überschreiben, dass man es nicht mehr erkennt, hat sie oft demonstriert. Auch in Aix-en-Provence war sie im Grand Théâtre de Provence schon mit von der Partie. Im letzten Vor-Corona-Jahrgang 2019 machte sie mit Wolfgang Rihms Jacob Lenz, wie vorher schon in Stuttgart oder in Berlin, Eindruck.
Andrea Breth zusammen mit Ingo Metzmacher nach Aix-en-Prvovence einzuladen, ist per se eine gute Idee. Zumal die anspruchsvolle Regisseurin hier mit einem Protagonisten-Ensemble arbeiten konnte, das ihr größtenteils vertraut und insgesamt hochwillkommen war, wie sie auf der Festspiel-Homepage in einem YouTube-Beitrag wissen ließ. Dort sagte sie auch, dass sie nicht die landläufige Meinung teile, dass Salome die große Verführerin ist. Sie sieht in ihr eher ein sehr junges Mädchen, das ihr plötzliches sexuelles Erwachen mit solcher Wucht erlebt, dass sie aus der Bahn geworfen wird. Sie erliegt Jochanaan und wird von etwas überwältigt, das sie nicht kennt. Selbst ihr Stiefvater Herodes, dessen Avancen sie als ekelhaft empfunden habe, sei ein Liebender, der sich dessen nicht erwehren kann, so Andrea Breth.
So sieht es aus, wenn Herodes und Herodias tafeln
In der Art, wie die tatsächlich jungendlich wirkende, aufstrebende dänisch-französische Sopranistin Elsa Dreisig als Salome agiert, findet sich das, was Breth ihr zuschreibt tatsächlich wieder. Und auch die Abgründe des Herodes (der seine Stieftochter vielleicht zu lieb hatte, wie er ja selbst sagt) werden bei John Daszak von der offensiven Laszivität der Herodias, die Angela Denoke mit einer faszinierenden Präsenz ausstattet, in den Schatten gestellt. Ihr gelingt überhaupt das überzeugendste Rollenporträt in dieser Produktion. (Sie erinnert an eine andere Ex-Salome als Herodias, an Anja Silja - mehr Lob ist nicht möglich.) Für zumindest zwei der Protagonisten, von denen man sich ansonsten mit Grausen wendet, wäre Breth also eine beredte Anwältin. Und wenn man das Verhalten der Herodias als eine Spielart von rabiat emanzipiertem Selbstbewusstsein nähme, dann auch für die.
Im Falle Jochanaans dominiert per se das Mitgefühl mit dem Opfer. Die Herausforderung ist bei ihm eher der Umgang mit seinem unerträglichen frauenfeindlichen Fundamentalismus. In Gestalt von Gábor Bretz freilich hat dieser Gefangene, dem Herodias und die Juden aus unterschiedlichen Gründen nach dem Leben trachten und den nur der politischen Instinkt des Herodes schützt, nichts Abstoßendes. Es ist nachvollziehbar, wenn Salome ihn zum Objekt dieses ersten einbrechenden Begehrens macht.
Eine Vision statt eines Tanzes. Im Vordergrund: Herodes
Zum postulierten Einfühlen gehören Gefühlsräume, die das nachvollziehbar machen und die verführerische Wirkung der Musik konterkarieren oder auch verstärken. Auf Raimund Orfeo Vogts kongenialer Bühne gibt es zunächst den Mond, der seinen eigenen Bewegungsgesetzen folgt. Es ist jene weiße Scheibe der Romantiker. Wie von Zauberhand schiebt sich ein Caspar-David-Friedrich-Zitat langsam über die Bühne. Ein schmaler hoher Kasten, in dem Narraboth (Joel Prieto) und der Page (Carolyn Sproule) zu sehen und - etwas gedämpft - zu hören sind. Überhaupt bewegen sich hier alle wie in Trance, ausgebremst, wie nicht ganz bei sich. Oder eben doch.
Der Clou dieses Bühnenbildes (und der ganzen Inszenierung) ist der Bühnenboden. Er ist brüchig. Hat Risse. Kann sich an einigen Stellen heben und senken. Aber auch aufbrechen. Wenn für Salome im übertragenen Sinne etwas aufbricht, dann wird das hier zum Bild, in dem der Kopf des Jochanaan in so einer Bruchstelle auftaucht. Offensichtlich - da kommt die Präzision der kleinen Gesten bei Breth zum Tragen - ist er selbst in der Versuchung, Salome zu berühren, so wie sie mit Vehemenz ihn nicht nur berühren, sondern küssen will. Beide sind so mit ihrer inneren Aufgewühltheit und dem Ringen miteinander beschäftigt, dass sie gar nicht bemerken, wie sich Narraboth selbst (mit dem Rücken zum Publikum) erdolcht und dann in Zeitlupe direkt hinter ihnen in diesem Abgrund verschwindet, in dem sich Jochanaan und Salome bewegen, als wären sie in einem Pool.
Das Chaos nach dem Schleiertanz
Eine der Traumsequenzen, mit der sich Breth dann am Tanz der sieben Schleier vorbeimogelt, zeigt, wie Johanaan ein Salome-Double an der Kehle packt und es vor sich her und von sich weg schiebt. Hier ist sein Fanatismus zur Kenntlichkeit entstellt. Vor diesen Gefühlsraum auf brüchigem Grund im mondbeschienen Dunkel schiebt sich dann die Tafel im Palast. Hier sitzen sie alle wie bei einem Abendmahl, dem man ansieht, dass es aus den Fugen zu geraten droht. Herodes macht Salome Avancen, Herodias ihrem attraktiven Tischnachbarn (es sind mehr als Avancen), die Juden warten auf den Startschuss zum Gezerre über die Sichtbarkeit Gottes, rechts fällt jemand vom Stuhl, links kauert Salome am Boden.
Für den Schleietanz kehren wir mit Salome in ihre Traumwelt zurück und begegnen dort auch den anderen Protagonisten des Begehrens ganz unterschiedlicher Art. Das ist zwar faszinierend, aber wirklich packend ist die Rückkehr ins (bzw. rein bühnentechnisch: des) Palastinnere(n). Da liegt alles in Trümmern. Wie den Tanz, so verweigert Breth auch den abgeschlagenen Kopf (auf den nicht mal Kosky in seinem Extremminimalismus in Frankfurt verzichtete). Er liegt vermutlich in dem Blechbottich, den Salome vor sich hat für ihren großen Schlussauftritt in einem weißgekachelten Raum. Hier schwingt sich Elsa Dreisig mit der lyrischen Leuchtkraft ihrer Stimme in das ihr bislang mögliche Maximum an leidenschaftlicher Verzweiflung auf. Es mag an der hochdramatischen Tradition der Salome-Besetzungen liegen, wenn sich das Interesse an eine besondere Lesart hier nicht bei allen bis zur Faszination steigert.
Salome allein mit dem Haupt des Jochanaan
Salome hat auch 117 Jahre nach ihrer Dresdner Uraufführung ein Schockpotential. Nur die Popularität der genialen Musik und nicht minder faszinierenden Dichtung mildert das Ganze in der Wahrnehmung, nicht in der Sache. Gewohnter Schrecken ist eben leichter zu ertragen, als der, der einen zum ersten Mal trifft. Nur, wenn man den durch einen - wenn auch hochästhetischen und für sich genommenen überzeugenden - Grauschleier mildert, verschenkt man die Chance der Auseinandersetzung mit der Faszination des Grauens. In der Sommerhitze von Aix-en-Provence ist ein gekühltes Theater Gold wert. Auf der Bühne und auch im Graben beim farbenreich und sängerfreundlich dirigierenden Ingo Metzmacher und dem Orchestre de Paris dürfte und sollte es aber durchaus hitziger zugehen und kein Raum für nüchterne Distanz bleiben. Und bei der Besetzung der Salome wäre eine jugendlich wirkende echte hochdramatische Sängerin der Idealfall.
FAZIT
Bei Andrea Breths Salome Inszenierung liegen szenische Faszination und ein gewisses Quantum Enttäuschung durch Distanz aus Mitgefühl dicht beieinander.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Ingo Metzmacher
Inszenierung
Andrea Breth
Bühne
Raimund Orfeo
Kostüme
Alexandra Charles
Licht
Alexander Koppelmann
Choreographoe
Beate Vollack
Dramaturgie
Klaus Bertisch
Orchestre de Paris
Solisten
Salome
Elsa Dreisig
Jochanaan
Gábor Bretz
Herodes
John Daszak
Herodias
Angela Denoke
Narraboth
Joel Prieto
Ein Page der Herodias
Carolyn Sproule
Erster Jude
Léo Vermot-Desroches
Zweiter Jude
Kristofer Lundin
Dritter Jude
Rodolphe Briand
Vierter Jude
Grégoire Mour
Fünfter Jude / Zweiter Soldat
Sulkhan Jaiani
Erster Nazarener / Ein Kappadozier
Kristján Jóhannesson
Zweiter Nazarener
Philippe-Nicolas Martin
Erster Soldat
Allen Boxer*
Eine Sklavin
Katharina Bierweiler
Tänzer
Martina Consoli
Beatriz De Oliveira Scabora
Jacqueline Lopez
Alessia Rizzi
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