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Chopins Nachtgedanken bleiben hell und klar
Von Stefan Schmöe / Fotos: Sven Lorenz
"Jan Lisiecki freut sich, wenn Sie Ihren Applaus bis zum Ende der beiden Konzertteile ‚aufsparen' ": Beifall zwischen den einzelnen Werken ist nicht erwünscht, auch wenn Chopins Etudes mitunter kräftig danach verlangen. Aber der kanadische Komponist mit polnischen Eltern stellt die Stücke in einen größeren Zusammenhang, auf jede Etude aus op.10 (die in der "richtigen" Reihenfolge von Nr.1 bis Nr. 12 angeordnet sind) folgt in der Regel ein Nocturne, meist so, dass logische Anschlüsse der Tonarten ergeben. Tatsächlich ergibt sich aus der Verschachtelung der beiden Genres ein Gewinn, auch wenn man nicht gleich so weit gehen muss wie der Pianist selbst, der sich im Programmheft zitieren lässt mit der Aussage, die Nocturne "alle hintereinander zu spielen [sei] für den Hörer mitunter eintönig". Aber tatsächlich bringen die Kontraste eine interessante Dynamik in die Abfolge der Werke.
Foto: Sven Lorenz / Klavier-Festival Ruhr
Wobei Lisiecki selbst diese Kontraste mitunter gar nicht so groß erscheinen lässt. In den vertrackten Etüden op. 10 (Wikipedia weist auf die Gefahr von körperlichen "Spielschäden" bei Nr. 1 hin) geht er mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit über die enormen technischen Ansprüche hinweg, als sei das eher nebensächlich; sicher hört man die Herausforderungen, aber die Virtuosität wird wie eine Klangfarbe eingesetzt. Lisiecki hebt immer die Melodie hervor und baut alle anderen Elemente drumherum sorgfältig auf. Er kann es auch ordentlich donnern lassen, dann aber viel eher in einer markanten Bassfigur als in der (trotzdem beeindruckenden) Vollgriffigkeit. Und - wie auch in den Nocturnes - hört man immer wieder volksliedhafte oder tänzerische Motive: Während er gegen Himmel und Erde anspielt, bleibt der der Gestus im besten Sinne musikantisch leicht und beschwingt.
Foto: Sven Lorenz / Klavier-Festival Ruhr
So werden die Etudes bei aller Bravour zu hinreißenden Charakterstücken. Auf der anderen Seite spielt Lisiecki die Nocturnes, "Nachtstücke" dem Namen nach, bei aller Romantik mit großer Klarheit, höchst souverän durchgestaltet. Im Tempo eher streng, ist jede kleine Zäsur genau durchdacht und eben genau so lange wie nötig. Jede Umspielung oder Verzierung bleibt so dezent und zurückhaltend, dass die melodische Linie den Vorrang behält, der Spannungsbogen ist immer durchgehalten, die Rhythmen schwingen weiter: Lisiecki verliert sich bei aller Poesie nicht in unbestimmten Träumereien. Und auch die Nocturnes können gehörige Kraft entwickeln. Des nach schlechtem Marketing klingenden Konzerttitels "Poems of the Night" hätte es nicht bedurft, und so recht will diese programmatische Zuspitzung auch nicht auf Lisieckis Spiel passen. Es sind zumindest sehr helle Nächte, die hier beschworen werden.
Dabei ist der Pianist gerade einmal 27 Jahre alt - und bereits zum zwölften Mal beim Klavier-Festival Ruhr seit seinem Debut 2015 zu erleben (zwei weitere Konzerte mit allen Beethoven-Konzerten werden in dieser Saison noch folgen). Auf solche Dauerbeziehungen spielt das diesjährige Motto des Festivals "Lebenslinien" an, das an diesem Konzerttag noch eine andere Bedeutung erhielt: Intendant Franz-Xaver Ohnesorg hatte am Vormittag seine designierte Nachfolgerin, Katrin Zagrosek, vorgestellt, die ab 2024 verantwortlich die Leitung übernehmen wird (unser Bericht). Sie wird sich an herausragenden Abenden wie diesem messen müssen.
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Klavier-Festival Ruhr 2022 Anneliese Brost Musikforum Bochum 16. Mai 2022 AusführendeJan Lisiecki, KlavierProgrammFrédéric Chopin:Étude C-Dur op. 10 Nr. 1 Nocturne c-Moll op. posth. Étude a-Moll op. 10 Nr. 2 Nocturne E-Dur op. 62 Nr. 2 Étude E-Dur op. 10 Nr. 3 Étude cis-Moll op. 10 Nr. 4 Nocturne cis-Moll op. 27 Nr. 1 Nocturne Des-Dur op. 27 Nr. 2 Étude Ges-Dur op. 10 Nr. 5 Étude es-Moll op. 10 Nr. 6 Nocturne Es-Dur op. 9 Nr. 2 Nocturne c-Moll op. 48 Nr. 1 -- Pause -- Nocturne g-Moll op. 15 Nr. 3 Étude C-Dur op. 10 Nr. 7 Nocturne F-Dur op. 15 Nr. 1 Étude F-Dur op. 10 Nr. 8 Étude f-Moll op. 10 Nr. 9 Nocturne b-Moll op. 9 Nr. 1 Étude As-Dur op. 10 Nr. 10 Nocturne As-Dur op. 32 Nr. 2 Étude Es-Dur op. 10 Nr. 11 Nocturne cis-Moll op. posth. Étude c-Moll op. 10 Nr. 12 Zugabe: Ignacy Jan Paderewski: Nocturne B-Dur op. 16/4 Klavierfestival Ruhr 2022 - unsere Rezensionen im Überblick
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