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Aus dem Tanz erwächst eine magische Weltvon Stefan Schmöe / Fotos © Sammi Landweer
Am Anfang ist das Nichts. Stille, die Bühne ist leer. Sieben Tänzer*innen rollen sehr langsam einen Teppich aus, einen Flickenteppich, der sich dann erweist als ein Gebilde aus kunstvoll ineinander gelegter, aber nicht verbundener und sehr bunter Tücher. Die Tänzer*innen verschwinden, treten wenig später wieder auf, einzeln, jetzt sind es elf, und sie sind nackt. Sie kriechen unter die Tücher, binden sich Fantasiegewänder, Turbane. Sie schneiden Fratzen und Grimassen, werden zu skurrilen Skulpturen, in die allmählich Bewegung kommen. Inzwischen hat, zunächst kaum hörbar, ein Rhythmus eingesetzt, erst einmal nur von Rasseln. Dieser starre Rhythmus wird das gesamte einstündige Stück hindurch präsent sein, wird durch Trommeln verstärkt. Instrumentalstimmen treten hinzu, erst Flöten, dann Fiedeln; später auch Gesangsstimmen: Ein großes Crescendo über immer dieselbe Phrase. Man erlebt auf der Bühne wie im Klang einen gewaltigen Schöpfungsmythos.
Encantando steht in der afroindigenen Kultur Brasiliens für ein Wesen aus einer Welt zwischen Leben und Tod. Aus europäischer Sicht erahnt man in den skulpturalen Figuren märchenhafte, sehr archaische Gestalten, wie sie in Schöpfungsmythen unterschiedlichster Völker vorkommen, ungebändigt und kraftvoll, ja "unzivilisiert", weil sie zunächst vollständig individualisiert sind, an keine zivilisatorischen Regeln, an kein gesellschaftliches System gebunden. Wenn sie, unabhängig vom Geschlecht, ihre Bäuche vorschieben und präsentieren wie bei einer Schwangerschaft, kann man an Fruchtbarkeitsgottheiten denken. Die Figuren scheinen Geschichten zu erzählen, die man nicht versteht, deren Magie aber im Raum greifbar ist. Nach und nach finden sich die Tänzer*innen zu kleinen Gruppen zusammen, Duos, Trios, Quartette, auch hier meist skulptural; erst im letzten Drittel organisiert sich das gesamte Ensemble als Gruppe. Wenn Choreographin Lia Rodrigues in dieser dreiteiligen Großform ein Abbild der Corona-Pandemie sieht - erst vollständige Isolation, dann Kleingruppen, zuletzt das Wiederfinden im Kollektiv - liest sich das auf dem Papier banal, macht aber auf die Vielschichtigkeit des Stücks aufmerksam, das in mehrfacher Hinsicht eine (Neu-)Entstehung der Welt beschreibt
Lia Rodriguez, 1956 in Sao Paolo geboren und im klassischen Ballett ausgebildet, hat 1990 in Rio de Janeiro die "Lia Rodriguez Companhia de Danças" gegründet, sich dabei immer als politische Aktivistin verstanden - insofern ist auch Encantando ein eminent politisches Stück geworden. Man kann es als kreativen Aufstand gegen die Welt des "weißen" Präsidenten Bolsonaro verstehen, dessen die Pandemie verleugnende Politik das Land in eine Katastrophe führte (und eine ökologische Katastrophe zeichnet sich längst ab), der eine rassistische Politik der Intoleranz gegenüber Minderheiten betreibt und die extreme soziale Ungleichheit verschärft. Rodriguez und ihre bunte Compagnie stellen dem eindrückliche Bilder einer ungemein kraftvollen, wilden, gleichwohl friedfertigen Gesellschaft entgegen. Dabei ist das Stück keinen Moment folkloristisch, es ist auch in der Ablehnung eurozentristischer Perspektiven kein spezifisch "indigenes" Werk. Vielmehr werden Phantasie und die unmittelbare Energie des Individuums zum Ausgangspunkt einer universellen Schöpfungsidee.
Natürlich wird nicht akademisch getanzt, sondern sehr archaisch - oft mit stampfenden Bewegungen, manchen Sprüngen, einem sehr natürlichen Ausdrucksrepertoire, das sich seine eigenen Regeln gibt, wo sich Individuen zusammenfinden, das sich aber nicht durch ein Regelwerk beschreiben lässt. Die Choreographie entwickelt stringent ihre eigene Bewegungssprache, die sich von der (Ballett-)Tradition vollständig löst. Gleichzeitig zeigen die bunten, teilweise mit Motiven bedruckten Tücher (Billigware von lokalen Märkten) immer an, dass es eine Zivilisation gibt - und wenn man die hier nicht existente Welt der Anzugträger mitdenkt: dass Encantando sich bei den Unterprivilegierten verortet. Damit liegt die Produktion, zwischen 2019 und 2021 entstanden und im Dezember 2021 beim Festival d'Automne in Paris uraufgeführt, durchaus im aktuellen Trend, wie auf der (reichlich misslungenen) Documenta den "europäischen" Kunstbegriff zu hinterfragen und den "globalen Süden" zu Wort kommen zu lassen.
Unabhängig von dieser meist ziemlich verkrampften Diskussion ist Encantando ein großartiges, sehr sinnliches, absolut mitreißendes Stück geworden, dessen Sogwirkung man sich nicht entziehen kann und das auch ohne jeden gedanklichen Überbau eine faszinierende Wirkung und seine ganz eigene Magie entfaltet - weit weg von jedem Diskurstheater. Die Choreographie spielt mit grotesken Momenten und balanciert Schrecken und Witz grandios aus, bleibt letztendlich zuversichtlich: Eine bessere Welt scheint möglich. Und auch wenn man eine Stunde lang immer dieselbe Musik hört, im Grunde immer nur eine Phrase, so ist die Aufführung nie langweilig, im Gegenteil: Man möchte noch länger zuschauen.
Encantando ist ein in seiner elementaren Wucht hinreißender, leider etwas kurzer Tanzabend, der jenseits des unmittelbar sinnlich Erlebbaren eine vielschichtige (politische) Interpretation zulässt.
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Produktionsteam
Kreation
Choreographie Assistenz
Dramaturgie
Künstlerische Mitarbeit, Bilder
Licht Design
Sound Design
Tänzer*innenLeonardo NunesCarolina Repetto Valentina Fittipaldi Andrey Da Silva Larissa Lima Ricardo Xavier Joana Lima David Abreu Matheus Macena Tiago Oliveira Raquel Alexandre weitere Berichte von der Ruhrtriennale 2021 - 2023 Homepage der Ruhrtriennale Die Ruhrtriennale in unserem Archiv |
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