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Perspektiven auf Tod und Sterbenvon Stefan Schmöe / Fotos © Volker Beushausen / Ruhrtriennale 2022
Eine gewisse Scheu ist greifbar, das Thema direkt auszusprechen: Den Tod und das Sterben. Im Programmheft, auch beim Publikumsgespräch nach der hier besprochenen zweiten Aufführung redet man lieber von "Übergängen", womit die Übergänge vom Leben in den Tod gemeint sind. Das mag künstlerisch damit zu tun haben, dass das zentrale Werk dieses Abends, die Quatre chants pour franchir le seuil (Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten) von Gérard Grisey eben diese sprachliche Verschleierung im Titel führen, aber auch im Charakter denkbar weit entfernt sind von einer musiktheatralischen Eindeutigkeit und Plakativität des Sterbens wie in der klasisch-romantischen Oper, etwa bei Verdi oder Puccini. Und natürlich ist es eine Thematik notwendigerweise ohne Erfahrungswerte, die daher im Spekulativen bleiben muss. Um eine medizinische Betrachtung geht es schon gar nicht, vielmehr um eine individuelle wie kulturelle, damit künstlerische Verarbeitung dieser Thematik. Aber die sprachliche Unschärfe deutet indirekt auch die szenischen Probleme an, die sich die Ruhrtriennale und insbesondere Regisseurin Elisabeth Stöppler mit diesem Projekt aufgehalst - und nur teilweise gelöst - haben.
Gérard Grisey hat die vier Orchesterlieder kurz vor seinem Tod 1998 komponiert und reflektiert darin Tod und Sterben aus verschiedenen Perspektiven. Der Tod des Engels (nach einem Gedicht von Christian Guez Ricord) ist die introvertierte Auseinandersetzung des Individuums mit der Endlichkeit, Der Tod der Zivilisation (nach Inschriften ägyptischer Sarkophage) eine textlich fast wissenschaftlich-buchhalterische Sicht mit einer gewissen Fassungslosigkeit, Der Tod der Stimme nach einem altgriechischen Gedicht aus dem 4. Vorchristlichen Jahrhundert ein auskomponiertes Verstummen, und Der Tod der Menschheit (nach Passagen aus dem Gilgamesch-Epos) ein gestammeltes apokalyptisches Szenario, dem ein versöhnliches Wiegenlied folgt. Zwischen die Gesänge sind in dieser Konzeption Werke von Claude Vivier (Glaubst Du an die Unsterblichkeit der Seele aus dem Jahr 1983 ) als Reflexion des ersten Gesangs, ein weiteres Werk von Grisey (Tempus ex macchina für sechs Schlagzeuge, 1979) wie eine Aufhebung der Zeit und Nuit für 12 Stimmen (1968) von Iannis Xenakis als Ausdruck des Verlustes von Sprache eingeschoben. Das erweist sich als in der musikalischen Logik durchaus zwingende Abfolge, die das Werk Griseys als Klammer ins Zentrum stellt, die Perspektive wie den musikalischen Raum gleichzeitig erweitert.
Als Einleitung erklingt Okanagon für Harfe, Kontrabass und Tam-Tam von Giacinto Scelsi (komponiert 1968), was eine geniale Verbindung von Klang und Raum schafft: Die geräuschhafte, metallische Musik scheint geradezu für die Bochumer Jahrhunderthalle, eine pompöse Industriehalle, geschaffen zu sein, als würde dieser Ort selbst zu klingen beginnen. Dabei erweckt die durchbrochene, vage um einen Quintklang kreisende Musik in diesem Ambiente eine Assoziation des Vergangenen und der Vergänglichkeit und beschwört die Erinnerung an ein untergegangenes Industriezeitalter herauf, ein Nachhall einer die Region prägenden Epoche wie ein musikalischer "Schatten". Und auch optisch ist die riesige Halle der Hauptdarsteller in der einsetzenden Dämmerung. Bühnenbildner Hermann Feuchter hat vier Stege schräg in den ausgedehnten Bühnenraum gesetzt, die die Kranbahnen nachahmen und damit die Architektur aufgreifen. Sie führen ins Nichts oder, wenn man so will, in den Himmel. Vier Stege, das kann man als Anspielung auf die vier Gesänge verstehen, vier Wege in andere Sphären. Die Musiker sind als "Klanginseln" auf der ausgedehnten Bühne positioniert, bei jedem Werk an anderem Ort, teilweise gar nicht richtig sichtbar, gleichwohl in der von der Technik grandios bespielten Akustik der Halle (Sound Design: Thomas Wegner) als Klangerlebnis bestechend präsent. Es entsteht eine Aura des nicht mehr Fassbaren.
Als beeindruckende Klanginstallation verfehlt das nicht seine Wirkung, und vermutlich wäre eine stärkere szenische Beschränkung eben darauf die bessere Lösung gewesen. Die individuellen Geschichten, die im Programmheft angedeutet sind, lassen sich in den bemühten Arrangements auf der Bühne nicht wiedererkennen - da wird meist pathetisch geschritten. Wenn die Orchestermusiker*innen und das Chorwerk Ruhr in grauen Anzügen agieren, dann sind das vermutlich die Schatten, also die Toten, aus dem Titel des Abends. Sophia Burgos, die Sopranistin des ersten Grisey-Chants entkleidet sich am Ende ihrer Szene vollständig, worauf ihr ein ebensolcher Anzug übergestreift wird - ein ziemlich banales Bild für das Sterben. Sicher kann Nacktheit als theatralisches Mittel eingesetzt werden, aber hier wirkt es wie ein beinahe verzweifelter und dennoch untauglicher Versuch, der Musik Bilder entgegenzusetzen. Eine tote Frau (Kristina Stanek), die eine Metamorphose zur Rollschuhläuferin durchmacht, ergibt kein zwingenderes Bild, und arg misslungen ist die Bebilderung des Xenakis-Werkes, dessen Glissandi über Wortfetzen aus untergegangenen Sprachen man als verzweifelten Ausdruck des Nichtverstehens deuten kann, der hier durch szenischen Aktionismus (die Sängerinnen und Sänger vom ausgezeichneten Chorwerk Ruhr werfen wie in manischer Hysterie mit den Notenblättern um sich) in surreale Komik umschlägt. Die Musik klingt in diesem Kontext angestrengt und auch ein bisschen albern, der schwächste Teil des Abends. Fast alles, was an Aktionen auf der Bühne passiert, sieht austauschbar und letztendlich nichtssagend aus.
Vielleicht ist der Eindruck von den höher gelegenen Reihen der steil ansteigenden Zuschauertribüne ein besserer; von meinem Platz (Reihe 1) praktisch ohne Blick auf die Totale verschwindet manches im Bühnenhintergrund - und das ist vielleicht nicht einmal das Schlechteste, denn ungleich spannender ist die Klangdramaturgie. Es wird durchweg hinreißend gesungen und musiziert, mit bestechend sauberer Intonation der Solo-Soprane (Sophia Burgos, Kerstin Avemo, Kristina Stanek, Caroline Melzer), dem ausgezeichneten Chorwerk Ruhr und dem nicht minder guten Klangforum Wien. Peter Rundel dirigiert die Musik, die gar nicht so zeitgenössisch ist wie von der Regisseurin in der Nachbesprechung angedeutet (immerhin sind die Kompositionen teilweise über 50 Jahre alt und stammen aus dem vorigen Jahrtausend), mit imponierender Selbstverständlichkeit. Dabei bleibt die Musik uneindeutig, widersetzt sich der letztendlich vielleicht allzu zaghaften Dramatisierung. Aber sie verbindet sich mit dem Raum. Mit der Jahrhunderthalle spielt Elisabeth Stöppler ganz großartig, gegen sie kommt sie nicht an.
Musikalisch ganz großartig und am richtigen Ort - für solche Projekte ist die Ruhrtriennale gemacht. Die szenische Deutung kann allerdings nicht mehr als ein paar Banalitäten beisteuern.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie
Bühne
Kostüme
Sound Design
Lichtdesign
Dramaturgie
Solisten
Stimme I
Stimme II
Stimme III
Stimme IV
Stimme V
Tenor
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- Fine -