Der Haifisch und seine Zähne
Von Roberto Becker
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Fotos von Jean-louis Fernandez
Ausgerechnet Kurt Weills und Bertolt Brechts Dreigroschenoper an der Anfang des Premierenreigens des 75. Festspieljahrgangs in Aix-en-Provence zu setzten, ist ein schon eine Art statement. Allerdings eins, dass am Ende dann doch nicht wirklich einleuchtet. Gerade weil der Regisseur Thomas Ostermeier nicht nur bestens französisch spricht, sondern auch eine langjährige Bindung zum Nachbarfestival in Avignon hat. Wie viele Schauspielregisseure hat auch der langjährige Schaubühnenchef den Ehrgeiz, auch mal Oper zu inszenieren, und da kam ihm das Angebot von Pierre Audi gerade recht.
Mackie Messer (links) begrüßt seinen potenziellen Schwiegervater
Aber es ist wie überall: Nicht nur jedes einzelne Werk birgt die Chance, zu gelingen, zu scheitern oder mit einem Ergebnis irgendwo dazwischen durchs Ziel zu gehen. Das gilt halt auch für die eine oder andere Planungsentscheidung einer Festspielleitung, wobei sich eine Wertung ebenso aus den Erwartungshaltungen ergibt, an denen gemessen wird. Es mag durchaus sein, dass Franzosen einen anderen, sprich: leichteren Zugang zu der Nummernrevue in ihrer Muttersprache finden, zu der Thomas Ostermeier den Welthit von Kurt Weill und Bert Brecht in der französischen Übersetzung von Alexandre Pateau gemeinsam mit Akteuren der Comédie Française verarbeitet hat.
Polly vor einem Dekor der 1920er-Jahre - Avantgardekunst
In der sparsamen, vor allem mit Elementen einer Ästhetik der Entstehungszeit spielenden Bühne und einer Überdosis Slapstick ist diese Inszenierung im Théâtre de l'Archevêché jedenfalls kein Beleg für die brisante Gegenwärtigkeit des Werks. Eher schon dafür, welches Assimilierungspotenzial das System hat, das Brecht und Weill Ende der Zwanzigerjahre frontal aufs Korn nahmen. Bleibt man in der Diktion von Brecht, könnte man sagen, dass der metaphorische Haifisch sozusagen ein sein Maul geöffnet und zugeschnappt hat - und ziemlich schnell wurde die Dreigroschenoper verdaut und zu einem akzeptierten Teil des bürgerlichen Theatersystems. Aber was ist schon ein provozierender Angriff auf die bürgerliche Bühne gegen einen Logenplatz im Repertoire des Welttheaters…
Slapstick mit Tortenschlacht
Politisch ist hier der illustrative Hintergrund, der mit grafischen Elemente spielt, die an Lissitzky erinnern und als bewegliche Elemente eine Fläche für ikonographische Zeitgeistbilder bilden. Das ist genauso gefällig anzusehen wie die LED-Lichtkästen, die mit ihren Stückorientierungen an die Arbeiten von Jenny Holzer erinnern. Dazu gibt es ein Gerüst und eine fahrbare Treppe. Der Rest obliegt den Solisten an der Rampe hinter altmodischen Standmikrophonen. Revue ist angesagt, und die entgleitet schnell in einen Slapstick mit Tortenschlacht zu Hochzeit von Mackie Messer und Polly Pechum. Ein Problem ist die geschmeidige Harmlosigkeit, mit der Birane Ba seinen Mackie Messer verblassen lässt. Auch Benjamin Lavernhe als Tiger Brown wirkt selbst im Kanonensong eher beiläufig. Immerhin gelingt es Christian Hecq als Pecham, Véronique Vella als dessen Frau und Marie Oppert als Polly, dem etwas selbstbewusst Aufgerauhtes entgegenzusetzen. Zumindest für den nichtfranzösischen Teil des Publikums entfaltet der Abend nicht die Zugkraft, die das Stück vor allem dank der Songs ja immer noch hat.
Maceath unterm Galgen, bevor der reitende Bote kommt
Im Graben langten Maxime Pascal und sein Ensemble Le Balcon zum Glück so deftig und pointierter zu, dass man die Wut der Schöpfer auch durch diese Revue-Show hindurch noch ahnen konnte. Dem Ganzen nach bündigem Schlussapplaus noch eine Mitsing-Aufforderung zum Kampf gegen den Faschismus und den Griff zu den Waffen hinterherzuschicken, gehört zu den wohlfeilen Gesten der Betroffenheit, die man in den Blasen ambitionierter Theatermacher wohl besser versteht als außerhalb.
FAZIT
Der Auftakt dieses Festivals mit genau diesem Stück war keine wirklich glückliche Entscheidung. Der Haifisch jedenfalls kam recht zahnlos daher und mehr auf den schönen Schein bedacht.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Maxime Pascal
Inszenierung
Thomas Ostermeier
Bühne
Magda Will
Kostüme
Florence von Gerkan
Lichtdesign
Urs Schönbaum
Choreographie
Johanna Lemke
Video
Sébastien Dupouey
Sound
Florent Derex
Chor
Philippe Franceschi
Dramaturgie
Elisa Leroy
Amateurchor Pasarelles
Orchester "Le Balcon"
Solisten
Celia Peachum
Véronique Vella
Jenny
Elsa Lepoivre
Jonathan Jeremiah Peachum
Christian Hecq
Robert, Mitarbeiter von Macheath
Nicolas Lormeau
Brown
Benjamin Lavernhe
Macheath
Birane Ba
Lucy
Claïna Clavaron
Polly Peachum
Marie Oppert
Filch und Saul, Mitarbeiter von Macheath
Sefa Yeboah
Matthias, Mitarbeiter von Macheath
Jordan Rezgui
Jacob, Mitarbeiter von Macheath
Cédric Eeckhout
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