Sicher ist dieser Franz Wozzeck ein Mörder. Er schneidet seiner Marie die Kehle durch, weil sie sich mit dem Tambourmajor eingelassen hat. Und dabei hatte sich doch gerade dieser Wozzeck jenseits dessen, was ein einzelner leisten und aushalten kann, dafür im wahrsten Sinne des Wortes abgestrampelt, um für Marie und deren Kind zu sorgen. Anfangs mag er den Jungen gar nicht ansehen, am Ende streckt er die Arme nach ihm aus, aber da ist es zu spät.
Wozzeck unter Menschen - für ihn ein Alptraum
Wie schon Georg Büchner mit seinem radikalen Stück und Alban Berg mit dessen kongenialer Vertonung nimmt auch Simon McBurney mit seiner aktuellen Festival-Inszenierung die Perspektive dieses Mörders und Selbstmörders ein, der obendrein seinen Sohn allein zurücklässt. Doch die Welt ist für ihn der pure Alptraum, die Natur so unheimlich wie die Fassade der Häuser, in denen Marie wohnt. Die Frau ist am Ende in seinen Augen falsch und untreu, der eine Freund ist schwach, die Vorgesetzten ein Panoptikum von selbstverliebten Fieslingen und Perversen, für die Christina Cunningham die passenden Kostüme gemacht hat.
Wozzeck als Versuchsobjekt des Doktors
Alle scheinen nur auf ihm herum zu trampeln. Wo die Welt so von Grund auf schlecht ist, da hat der Mensch keine Chance, ein Mensch zu sein. Da erschreckt dann auch Wozzeck vor dem menschlichen Abgrund in sich selbst. Um solche Momente zu gestalten, ist Christian Gerhaher genau der richtige. Erschrocken über sich selbst folgt er doch seinem eigenen, untergehenden Stern. Dass dieser Wozzeck den Abgrund, in den er am Ende stürzt, als solchen bewusst wahrnimmt, gehört zu den Facetten, mit denen wohl nur ein Ausnahmeinterpret wie Christian Gerhaher diese Figur zeichnen kann. Dieser phänomenale Sängerdarsteller vermag es, mit seiner intelligenten Gesangskultur auch einem Wozzeck noch Reste von Würde und Selbstbewusstsein zu sichern und ihn mit einem Trotz-allem auszustatten.
Für Wozzeck ist auch die Natur ein Alptraum
Im Grand Théâtre de Provence gab es den Abgrund, in den Wozzeck bei Georg Büchner und in Alban Bergs Oper blickt, diesmal auf der Bühne von Miriam Buether sogar wortwörtlich. Der von den Verhältnissen und von vielen Menschen bedrängte, gehetzte und geschundene Mann versinkt diesmal tatsächlich. Ganz langsam und genau zu den von Sir Simon Rattle und seinem London Symphony Orchestra beigesteuerten, betörend dunkel leuchtenden Orchesterklängen. In McBurneys beklemmend konzentrierter Inszenierung, die eine detailgenaue Personenregie einschließt, bleibt der Junge ganz stumm und allein zurück. Mit der Projektion einer trostlos erdrückenden Plattenbaufassade im Rücken. Das vorher schon immer mit dem Vater mitlaufende kindliche Alter Ego des Hauptmanns, bedrängt ihn da zu den Hop-Hop-Tönen, die eigentlich er am Ende zu singen hätte. Genauso, wie es zuvor dessen weiß uniformierter Vater, den Peter Hoare bis in die Groteske treibt, es immer wieder getan hat. Die Hoffnungs- und Trostlosigkeit ist damit nicht nur auf den Punkt gebracht, sie geht auch wie selten zu Herzen.
Die drei, die leere Spielfläche begrenzenden Wände werden reichlich, aber wohldosiert für atmosphärischen Nahaufnahmen und Videoprojektionen genutzt. Sie bilden das metaphorische Gefängnis, in dem sich nicht nur Wozzeck, gehetzt wie in einem Hamsterrad, abstrampelt. Maries Behausung (im Plattenbau) wird nur durch eine Tür angedeutet.
Wozzeck als Spottobjekt des Hauptmanns (und seines Sohnes)
Malin Byström ist eine intensiv leuchtende und attraktive Marie. Klar, dass Thomas Blondelle als machohaft fieser Tambourmajor auf sie abfährt. Und auch klar, dass Brindley Sherratt zusammen mit dem Hauptmann als schrulliger Doktor Wozzeck das Haar in der Suppe genüsslich vorhalten. Neben diesen Drei machen aber auch Robert Lewis als Andres und Héloïse Mas als exquisite Margret aus ihren Figurenporträts Musterbeispiele erstklassigen Gesangs zum intensiven Spiel. Der Estonian Philharmonic Chamber Choir und eine "Actors"-Truppe sorgen für eine wohldosierte Opulenz der Massenszenen im Wirtshaus oder der Kaserne.
FAZIT
Simon McBurney und Sir Simon Rattle gelingt mit ihrer aktuellen Wozzeck- Inszenierung ein Festspielglanzstück in Aix-en-Provence. Der einhellige Jubel für diese wahrhaft festspielwürdige Produktion war denn auch wohlverdient.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Sir Simon Rattle
Inszenierung
Simon McBurney
Bühne
Miriam Buether
Kostüme
Christina Cunningham
Licht
Paul Anderson
Choreographie
Leah Hausman
Video
Will Duke
Chor
Lodewijk van der Ree
Kinderchor
Samuel Coquard
Dramaturgie
Gerard McBurney
Kinderchor "Maîtrise des Bouches-du-Rhône"
Estnischer Philharmonischer Kammerchor
London Symphony Orchestra
Solisten
Wozzeck
Christian Gerhaher
Marie
Malin Byström
Tambourmajor
Thomas Blondelle
Doktor
Brindley Sherratt
Hauptmann, Der Narr
Peter Hoare
Andres
Robert Lewis
Margret
Héloïse Mas
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