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Von allen Heilsbotschaften bleibt am Ende nur die MusikVon Stefan Schmöe, Fotos: © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Der Parsifal-Tag beginnt früh in Bayreuth, jedenfalls für die 330 Auserwählten, die am Abend augmented reality (AR) in der Aufführung erleben wollen. Am Vormittag werden an der Garderobe im Festspielhaus die erforderlichen AR-Brillen der individuellen Nasenbreite angepasst (durch Fehlsichtigkeit bedingte Korrekturen wurden vorab schon abgefragt). Um 15:30 Uhr, eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn, gibt es dann im Zuschauerraum eine kurze technische Einweisung; die fertig konfigurierte Brille liegt am Platz bereit. Das alles klappt reibungslos, das Personal ist zahlreich, kompetent und freundlich. Die Technik funktioniert: Das können die Festspiele als Erfolg verbuchen.
Ratlosigkeit vor monolithischem Objekt: Gurnemanz (ganz rechts) berichtet den Knappen und Rittern von den aktuellen Problemen der Gralsgemeinschaft
Die spannendere Frage war aber sicher: Was eigentlich machen die rund 1700 Zuschauerinnen und Zuschauer ohne AR-Brille? Die erleben, so viel sei vorweggenommen, eine ästhetisch etwas anders akzentuierte, aber nicht unbedingt schlechtere Inszenierung. Regisseur Jay Scheib hat keinen neumodischen Fantasy-Parsifal mit digitalem Schnickschnack konzipiert; vielmehr scheinen die Bühnenbilder (Mimi Lien) vorsichtig an die neubayreuther Ästhetik Wieland und Wolfgang Wagners anzuspielen. Eine monolithische Säule vor wechselnd grauem oder hellblauem Rundhorizont im ersten Aufzug könnte Wielands Tristan von 1962 zitieren, die kristallenen Strukturen in Klingsors Zaubergarten des zweiten Aufzugs, eine formidable Schlucht mit Höhle, erinnern an die bühnenhohen Kristalle in Wolfgangs Parsifal von 1989 - und wenn ein Parsifal-Double am Seil die Wände herabsteigt, als stünden sie horizontal, und damit die räumliche Orientierung durcheinander bringt, dann ist auch der quer gelegte Kirchenraum von Götz Friedrichs Bayreuther Parsifal-Inszenierung (1982) nicht weit. Viel Tradition also, weitere Beispiele ließen sich anfügen (und Anspielungen Albert Speers "Lichtdom", der Lichtinstallation für den Nürnberger Reichsparteitag 1936, lassen auch die tiefschwarzen Seiten der Rezeptionsgeschichte erahnen). In diesem die Tradition umarmenden Kontext lässt sich der Schriftzug "remember me" auf Parsifals Shirt im zweiten Aufzug, wo Kundry ihm die Mutter in Erinnerung ruft, auch als ironische Selbstreverenz der Regie deuten - und man kann Scheibs Inszenierung als Reflexion der Bayreuther Ästhetik der letzten Jahrzehnte vor dem Hintergrund einer sich gerade vollziehenden digitalen Revolution lesen.
Scheib legt ein Netz von oft mehrdeutigen Symbolen und Anspielungen über die Geschichte, die er weitgehend getreu dem Libretto nacherzählt und die sich vom Ende her erklärt. Das Bühnenbild des dritten Aufzugs zeigt eine große und verrostete Bohrfräse (man kann an Harry Kupfers geborstene Turbine im Siegfried von 1988 denken) neben einem giftgrünen Wasserloch, das in eine Salzwüste gefräst wurde. Das Bild verweist auf den Abbau von Elementen wie Lithium und Kobalt, stellvertretend für eine hochtechnologisierte und gleichzeitig eben dadurch ökologisch zerstörte Welt. Die Endzeitstimmung korrespondiert sinnfällig mit der von Wagners ersterbender Gralsritter-Gemeinschaft. Aus diesem sehr aktuellen Untergangs-Szenario erklärt sich das Erlösungsbedürfnis der in dogmatischer Konvention erstarrten Gralswelt des ersten wie das einer enthemmten Konsumwelt des zweiten Aufzugs, in dem die Blumenmädchen nicht nur an Flower-Power und freie Liebe erinnern, sondern mit dem rosafarbenen Grundton auch an Barbie-Puppen. Als Gral dient ein Kristall, womit Scheib sich von der christlichen Deutungssphäre abgrenzt. Man darf in diesem Stein wohl ein Symbol für Heilsbotschaften aller Art - religiös, technologisch, esoterisch - sehen. Parsifals utopischer Erlösungsakt besteht darin, diesen alles andere als wundertätigen Gral zu zerstören und Seite an Seite mit Kundry in eine hoffentlich stärker selbstbestimmte Zukunft zu schreiten.
Freie Liebe zwischen Flower Power, Barbie und Totenkopf: Klingsors Blumenmädchen
Dieses Deutungskonzept, das Werktreue und kritische Distanz zu Wagner und dessen kunstreligiöser Attitüde im Parsifal geschickt ausbalanciert und dem Publikum viel Raum für eigene Gedanken lässt, geht insgesamt recht gut auf. Die Tücken liegen in der Umsetzung auf der Bühne. Mit den langen, handlungsarmen Szenen weiß Scheib nicht allzu viel anzufangen. Und so manches allzu klein geratene Detail (etwa eine Reihe von Reliquien, die von den Gralsrittern mitgeführt werden) ist ohne sorgfältiges Studium der Szenenfotos im Programmheft oder einen entsprechenden Hinweis im launigen, quasi offiziellen (und digital verfügbaren) Einführungsvortrag von Sven Friedrich nicht zu erkennen, weil die Entfernung im Festspielhaus schon in der Mitte des Parketts eben doch sehr groß ist - ein Problem, das schon im Vorjahr Valentin Schwarz' Neuinszenierung des Ring des Nibelungen ein Ärgernis war. Dabei hätten die Videoprojektionen, oft Live-Bilder des Bühnengeschehens, hier durchaus Abhilfe schaffen können, wären sie konsequenter unter diesem Gesichtspunkt eingesetzt worden.
Der Effekt des Nicht-Erkennens wird durch die augmented reality noch verstärkt. Die legt, nur durch die Brille sichtbar, eine zusätzliche Schicht an Bildern zwischen den Zuschauer und die Bühne, die sowohl ablenkt als auch manches verdeckt. So sieht man im dritten Aufzug immer wieder Plastiktüten durch den Raum "fliegen", auch Elektroschrott; manchmal Gesteinsbrocken mit kristallinen Einschlüssen (Kobalt?). An anderen Stellen sind es Insekten oder Vögel, Totenköpfe in Klingsors Garten, manchmal ein angedeutetes Universum, an den inhaltlich passenden Stellen Pfeile, und gelegentlich Feuer. Vom Informationsgehalt ist das oft redundant zum Bühnenbild - oder liefert keine nennenswerte Erweiterung. Auf der Deutungsebene haben AR-Brillenträger also keinen Vorsprung. Die Ästhetik ist allerdings eine andere. Die Handlung spielt sich wie hinter einem eingezogenen Schleier ab und wirkt surreal, wie eine Traumsequenz. Dabei bleiben die visuellen Eindrücke letztendlich ein wenig enttäuschend. Womöglich haben sich Scheib und sein Team angesichts der Tatsache, dass nur einem kleinen Teil des Publikums diese Sichtweise ermöglicht werden kann, diszipliniert und auf radikalere Mittel und Bilder verzichtet.
"Erlösung dem Erlöser" unterm Strahlenkranz, der auch eine Dornenkrone sein könnte: Parsifal und Kundry schauen einer hoffentlich besseren Zukunft ohne Gral entgegen.
Viel technischer Aufwand für überschaubaren Ertrag also. Und in der Bilanz der Aufführung stellt die grandiose musikalische Interpretation letztendlich sowieso den ungleich größeren Aktivposten dar. Bayreuth-Novize Pablo Heras-Casado am Pult des ausgezeichneten Festspielorchesters dirigiert einen sanft fließenden, bei Bedarf rhythmisch federnden, oft aber geradezu zärtlich introvertierten Parsifal von melancholischer Eleganz. Das kommt den Sängerinnen und Sängern entgegen, wobei Andreas Schager in der Titelpartie mit seinem strahlenden, großformatigen Tenor noch am wenigsten daraus macht, gleichwohl beeindruckt. Aber Derek Welton als lyrisch grundierter, jede Phrase sorgfältig aussingender Amfortas und Georg Zeppenfeld als unprätentiös deklamierender, überaus souveräner Gurnemanz zeigen, wie nuanciert (und mitunter geradezu liedhaft) man diese Musik gestalten kann. Elīna Garanča geht die Partie der Kundry fast verhalten an, um im zweiten, dramatischen Teil ihrer Erzählung dann geradezu stimmlich zu explodieren - wobei jeder Ton klangschön bleibt, ohne an Expressivität einzubüßen. Auch die grundsoliden Jordan Shanahan als Klingsor und Tobias Kehrer als Titurel wie auch die Ritter und Blumenmädchen fügen sich da nahtlos ein, und der von Eberhard Friedrich einstudierte Festspielchor (bei dem die Frauenstimmen oft wie aus weitester Ferne in hauchzartem, immer substanzvollem Pianissimo glänzen) ist in bestechender Verfassung. Alles Schwere, Pathetische ist hier abgestreift, ohne an dramatischer Kraft zu verlieren. So abgeklärt und betörend schön musiziert hat man den Parsifal selten gehört: Auch für Bayreuther Maßstäbe ein musikalisch außerordentlicher Abend.
Jay Scheib präsentiert eine auf der Bühne eher konventionelle, aber durchaus vielschichtige und anspielungsreiche Inszenierung. Die AR-Bildwelten dazu geben sich vergleichsweise brav und revolutionieren die Rezeption ganz sicher nicht. Das eigentliche Ereignis ist so oder so die grandiose musikalische Interpretation.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Licht
Video
Chor
Dramaturgie Solisten
Amfortas
Titurel
Gurnemanz
Parsifal
Klingsor
Kundry
Erster Gralsritter
Zweiter Gralsritter
Knappen
Klingsors Zaubermädchen
Altsolo
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