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Heilige Johanna in der IrrenanstaltVon Thomas Molke / Fotos: © Oliver Vogel Friedrich Schiller war eine bedeutende Inspirationsquelle für Giuseppe Verdi. Insgesamt vier Dramen des deutschen Dichters hat Verdi während seiner langen Karriere vertont. Den Anfang markiert dabei Giovanna d'Arco, die am Beginn seiner später als "Galeerenjahre" bezeichneten Schaffensperiode steht, in der er sich nach den großen Erfolgen von Nabucco und Ernani verpflichtete, Opern gewissermaßen wie am Fließband zu komponieren. In der musikalischen Struktur steht das Werk noch ganz im Zeichen von Verdis junger Sturm- und Drangphase, weist jedoch nicht den einheitlichen Stil auf, der seine beiden früheren großen Choropern Nabucco und I lombardi auszeichnet. Stattdessen experimentiert Verdi in diesem Frühwerk an einer Art italienischer Romantik. Bei den Opernfestspielen Heidenheim, die seit 2016 mit einem Projekt begonnen haben, die frühen Verdi-Opern in chronologischer Reihenfolge aufzuführen, ist man nun bei seiner siebten Oper angelangt. Giovanna (Sophie Gordeladze) gibt dem entmutigten Carlo (Héctor Sandoval) neue Hoffnung im Kampf gegen die Engländer. Auch wenn Verdis Librettist Temistocle Solera bestritt, Schillers Drama als Vorlage für die Oper verwendet zu haben, deuten bei allen Unterschieden zahlreiche Parallelen darauf hin, dass die Oper Schillers Drama näher steht als der historischen Jungfrau von Orléans, Jeanne d'Arc, die im Hundertjährigen Krieg die Franzosen zu einem Sieg gegen die Engländer und die Burgunder führte, durch Verrat jedoch in Gefangenschaft geriet und auf Befehl des Herzogs Bedford am 30. Mai 1431 auf dem Marktplatz von Rouen wegen angeblicher Verstöße gegen die Gesetze der Kirche auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Das Libretto folgt wie Schiller dem unhistorischen Schluss, in dem Giovanna tödlich verwundet die Jungfrau Maria sieht und vom Volk zur Heiligen stilisiert wird. Auch ist Giovannas Vater Giacomo (bei Schiller Thibeaut d'Arc) anders als die historische Figur Jacques d'Arc davon überzeugt, dass seine Tochter mit dem Teufel paktiert. Die rund 30 Figuren bei Schiller werden in der Oper auf fünf Charaktere reduziert. Weggelassen werden beispielsweise Agnes Sorel, die empfindsame Maitresse des französischen Königs, und der englische Ritter Lionel, zu dem sich Schillers Johanna hingezogen fühlt. Stattdessen bauen Verdi / Solera eine Liebesbeziehung zwischen dem französischen König Carlo VII. und Giovanna ein, was wohl der Gattung Oper geschuldet sein dürfte. Anders als bei Schiller beschuldigt Giovannas Vater in der Oper seine Tochter nicht nur öffentlich der Ketzerei und lässt sie verhaften, sondern löst ihr anschließend die Fesseln, um sie zum tödlichen Kampf gegen die Engländer in die Schlacht zu schicken. Misstrauisch beobachtet Giacomo (Luca Grassi, hinten rechts) den Einsatz seiner Tochter Giovanna (Sophie Gordeladze) für König Carlo (Héctor Sandoval, vorne links). Regisseur Ulrich Proschka, der in den vergangenen Jahren bei den Festspielen bereits drei Mal für die Produktionen der Jungen Oper verantwortlich zeichnete, versucht, die Geschichte in die Gegenwart zu verlegen, was auf einige Schwierigkeiten stößt. Wie soll man dämonische und himmlische Stimmen, an die man im Mittelalter noch geglaubt hat und die Giovannas Handeln motivieren, in einem aufgeklärten Zeitalter noch rechtfertigen? Proschka scheint den einzigen Ausweg darin zu sehen, die ganze Geschichte in einer psychiatrischen Klinik anzusiedeln. Giovanna ist Patientin in einer Heilanstalt, in der ihre Visionen mit zahlreichen Apparaturen untersucht werden. Der Arzt ist dabei Talbot, der englische Kommandeur, dem Giacomo gemäß Libretto seine Tochter ausliefert. Lena Scheerer teilt die Bühne in ein Krankenzimmer in der Mitte, das mit mehreren Leuchtstäben von der Außenwelt abgetrennt ist. Hier hängt Giovanna ihren Träumen und Visionen nach und zeichnet Bilder vom König, die in der Art an Comic-Zeichnungen von großen Helden erinnern. Carlo tritt mit seinen Gefolgsleuten nur außerhalb dieses Raumes auf. Das Lichtdesign von Hartmut Litzinger macht vor allem durch verschiedene Farben bei den Leuchtstäben deutlich, dass die Welt Carlos von Giovanna getrennt ist. Nur ihr Vater und die Engländer finden den Weg ins Krankenzimmer. Teufelsaustreibung mit Elektroschocks: von links: Talbot (Rory Dunne), Giovanna (Sophie Gordeladze) und Carlo (Héctor Sandoval), dahinter: Statisterie und Chor) Dies alles ist nur bedingt schlüssig. Wenn man die Geschichte als Vision einer Wahnsinnigen deuten will, hätte man vielleicht zumindest beim Chor eine einheitliche Kostümierung wählen sollen, die die Grundidee einer kriegerischen Auseinandersetzung unterstützt. Stattdessen tritt der Chor in bunten Kostümen wie bei einem Maskenball auf. Auch wird nicht klar, wieso der französische Offizier Delil plötzlich einen Pfarrer darstellt, der sich mit einem Kreuz Giovanna gegenüber wie eine Art Exorzist gebärdet. Wenn man anschließend in einem Schattenspiel sieht, wie Giovanna unter Elektroschocks gesetzt wird, bevor sie laut Libretto in die Gefangenschaft bei den Engländern gerät, wirkt das ebenfalls recht konstruiert. Beeindruckend hingegen gerät der letzte Akt, wenn Giovanna sich mit Hilfe ihres Vaters aus der Gefangenschaft befreit und erneut in die Schlacht stürzt. Da ist sie von den zahlreichen Ärzten und Schwestern nicht mehr zu halten. Wenn dann ihr Leichnam in ein weißes Tuch gehüllt zurück ins Krankenzimmer getragen wird, tritt sie in einem Lichtkegel noch einmal von der Seite auf und schreitet entrückt durch die Leuchtstäbe ins Krankenzimmer, die in den Schnürboden emporgezogen werden und damit ihren Aufstieg in den Himmel andeuten. Doch auch dieses Schlussbild kann einen Teil des Publikums nicht versöhnen. So wird das Regie-Team mit einer Mischung aus Unmutsbekundungen und Jubel empfangen. Aufstieg in den Himmel: Giovanna (Sophie Gordeladze) (im Hintergrund: Giacomo (Luca Grassi) mit dem Chor und der Statisterie) Einhellig hingegen ist die Begeisterung des Publikums für die musikalische Leistung des Abends. Sophie Gordeladze gestaltet die Titelpartie mit großer Intensität und dramatischen Höhen. Direkt in ihrer Auftrittskavatine, wenn Giovanna laut Libretto des Nachts unter einer Eiche vor einer Kapelle niederkniet und überzeugt ist, auserwählt zu sein, Frankreich zu retten, macht Gordeladze mit kraftvollen Höhen den kämpferischen Charakter der Figur deutlich. Bewegend gestaltet sie im ersten Akt ihre tiefen Gefühle für den König, denen sie sich verzweifelt zu widersetzen versucht. Sehr zarte Töne schlägt sie an, wenn sie sich ihrer Verurteilung ergibt, weil sie sich wirklich schuldig fühlt. Heroisch gibt sie sich dann im dritten Akt, wenn ihr Vater von ihrer Unschuld überzeugt ist und sie befreit, damit sie ein letztes Mal in den Kampf ziehen kann. Regelrecht entrückt präsentiert sie ihren Aufstieg in den Himmel mit leuchtenden und fragilen Tönen. Luca Grassi verfügt als Giovannas Vater Giacomo über einen dunklen und kräftigen Bariton und gibt darstellerisch glaubhaft den besorgten Vater, der anfangs wirklich vom Wahnsinn seiner Tochter überzeugt ist und deshalb mit dem Doktor zusammenarbeitet. Eindringlich gestaltet er seine Einsicht im dritten Akt und löst ihre Fesseln, nachdem er sich im zweiten Akt zunächst völlig kompromisslos und hart gezeigt hat. Héctor Sandoval klingt als Carlo VII. in den Höhen ein wenig blass, meistert die Partie aber ansonsten mit weichem Tenor, der dem schwachen Charakter der Figur gut entspricht. Darstellerisch überzeugend versucht er, Giovanna gegen ihren Vater und das Volk zu verteidigen, und steht auch dann noch zu ihr, als sie bereits verurteilt worden ist. Martin Piskorski und Rory Dunne runden die Leistung des Ensembles in den kleineren Partien des Delil und Talbot überzeugend ab. Auch der Tschechische Philharmonische Chor Brünn unter der Einstudierung von Michael Dvořák leistet Gewaltiges und punktet sowohl als kriegerisches Volk, als auch als dämonische und himmlische Stimmen. Marcus Bosch arbeitet mit der Cappella Aquileia die zahlreichen Stimmungen der Partitur, die zwischen kämpferischem Ton und zarten, entrückten Klang changieren, differenziert heraus, und erntet ebenfalls zu Recht großen Beifall. FAZIT Ob man die Geschichte in einer psychiatrischen Klinik sehen möchte, ist fraglich. Musikalisch hat die Aufführung aber durchaus ihre Meriten.
Weitere Rezensionen zu
den
Opernfestspielen Heidenheim 2023 |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Ausstattung
Lichtdesign
Choreinstudierung
Dramaturgie
Cappella Aquileia
Tschechischer
Philharmonischer
Solistinnen und SolistenGiovanna d'Arco Carlo VII. Giacomo, Giovannas Vater Delil, ein französischer Offizier Talbot, ein englischer Kommandeur Statisterie
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- Fine -