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18 wahnsinnige Etüden für die Ewigkeit
Von Stefan Schmöe
Als Zugabe spielt Pierre-Laurent Aimard mit Inbrunst und großer Geste - nichts. Was natürlich nicht stimmt. Es handelt sich um György Ligetis Drei Bagatellen aus dem Jahr 1961, die, wie Aimard bei der Ansage dieser Zugabe bemerkt, tatsächlich nicht auf dem Programm des aktuellen Klavier-Festival Ruhr stehen, obwohl dieses den 100. Geburtstag des ungarischen Komponisten ausgiebig und umfassend feiert. Die erste Bagatelle besteht aus genau einem Ton, einem Cis in Basslage (der "großen" Oktave), einen Takt gehalten, dolcissimo zu spielen. Die zweite besteht aus einer ganztaktigen Pause (Spielanweisung: molto espr.). Und die dritte besteht ebenfalls aus einer Pause (piu lento). Und Ligeti hat für den Fall einer erfolgreichen Aufführung aller drei Bagatellen (deren Ende mit dem Schließen der Noten zu verdeutlichen ist) sogar eine Zugabe komponiert, bestehend aus einer Sechzehntelpause - aber das sei ihm dann doch zu anstrengend, befand Aimard. Wie ernst man das Opus nehmen muss, sei dahingestellt (jedenfalls ist die Bezeichnung Bagatelle soweit nachvollziehbar), auf YouTube kann man sich selbst ein Bild machen. Ein ungewöhnliches Konzert fand so jedenfalls einen angemessenen Abschluss.
Vorangegangen waren die 18 Etüden von Ligeti, kurze Werke von ein paar Minuten Dauer, weshalb das Konzert mit besagter Zugabe nach etwas mehr als einer Stunde (ohne Pause) schon beendet war, gleichzeitig aber von so hoher Intensität, dass man auch nichts anderes mehr hätte hören wollen. Diese Etüden stehen natürlich in der Tradition Chopins, auch als Konzertstücke reüssieren zu können. Gleichzeitig hat jede von ihnen ein klar umrissenes kompositorisches Problem als Ausgangspunkt - der "Übungscharakter" liegt also genauso beim Komponisten wie beim Pianisten. Aimard hat 1987 die französische Erstaufführung des ersten (von drei) Bänden der höllisch schweren Etüden gespielt und sieben weitere danach zur Uraufführung gebracht; die Etüden Nr. 10 und 12 hat Ligeti ihm gewidmet. Das schnörkellose, unromantische, unbestechlich präzise Spiel des Franzosen trägt somit das Siegel der Authentizität.
Dazu gehört ganz sicher, mit welcher Selbstverständlichkeit Aimard abrupte Lautstärkewechsel völlig organisch und selbstverständlich in sein Spiel integriert, und wie er im scheinbar größten Chaos Haupt- und Nebenstimmen auseinanderhält und auch im Prestissimo noch einzelne Töne heraushebt, sodass sich über einem an Rauschen grenzenden, aber nie unscharf verschwimmenden Untergrund so etwas wie Haupt- und Nebenstimmen entwickeln. Wenn Ligeti nach und nach den gesamten Klangraum, den die Klaviertastatur hergibt, erobert (das geschieht oft), dann wird das bei Aimard nie zum Effekt, und auch wenn es in den extremen Lagen donnert oder klirrt, dann sieht man dem sich verausgabenden Pianisten die Kraftanstrengung an, aber nie klingt es lärmend oder einfach nur laut - vielmehr wird die spezifische, fast geräuschhafte Klangentfaltung des Flügels in den Randbereichen zum strukturellen Element. Wobei Aimard die kompositorische Struktur mit der oft komplexen Polyrhythmik nie dem sinnlichen Klangerlebnis unterordnet, auch wenn selbiges seinen Raum erhält. Die Etüden sind sicher intellektuelle Herausforderungen an Interpreten wie Hörer; gleichzeitig sind sie in ihrer Kürze und Konzentration ungeheuer abwechslungsreich. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus.
Aimard spielt die Werke nicht in der Nummerierung oder der chronologischen Reihenfolge nach, sondern stellt um (einmal bricht er ab, weil er sich in der Reihenfolge vertan hat). Er beginnt mit Buch drei und damit mit den eher spröderen, abstrakteren späten Stücken, lässt das erste Buch folgen und endet mit dem publikumswirksameren zweiten Buch, das die wohl suggestivsten Werke enthält und durch seine programmatischen Titel einen einfacheren Zugang ermöglicht. Wobei die letzte Etüde aus dem ersten Buch, die Nummer sechs Automne á Varsovie - Herbst in Warschau - in seiner in absteigenden fünftonigen Skalen düster-melancholischen Stimmung einen emotionalen Höhepunkt darstellt. Aimard kontrolliert auch hier souverän die Balance zwischen dem inhärenten Pathos (man muss den Titel wohl als resignative Entgegnung auf einen einst hoffnungsvollen "Warschauer Frühling" politisch deuten) und dem immer klaren, analytischen Spiel.
Großartig, mit welcher Lässigkeit er in der Nr. 11 En suspens (In der Schwebe) die Anweisung "avec l'élégance du swing" umsetzt, die "metallisch" leuchtende Klangwelt von Nr. 8 fém (Metall) ohne übermäßige Härte herausstellt oder in Nr. 9 Vertige (Schwindel) die gleichzeitige Ab- und Aufwärtsbewegung in höchster Intensität zu einer Spirale ohne Anfang und Ende verdichtet. Die Zugaben mögen (sehr witzige) Bagatellen sein. - die Etüden erweisen sich an diesem zeitlich kurzen, inhaltlich gewaltigen Abend als kompositorische und interpretatorische Großtat.
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Klavier-Festival Ruhr 2023 Anneliese Brost Musikforum Bochum 31. Mai 2023 AusführendePierre-Laurent Aimard, KlavierProgrammGyörgy Ligeti: Études (Etüden)Drittes Buch Nr. 15: White on White (Weiß auf Weiß) Nr. 18: Canon Nr. 16: Pour Irina (Für Irina) Nr. 17: À bout de souffle (Atemlos) Erstes Buch Nr. 2: Cordes à vide (Leere Saiten) Nr. 1: Désordre (Unordnung). Nr. 3: Touches bloquées (Gesperrte Tasten) Nr. 4: Fanfares (Fanfaren) Nr. 5: Arc-en-ciel (Regenbogen) Nr. 6: Automne à Varsovie (Herbst in Warschau). Zweites Buch Nr. 8: Fém (Metall) Nr. 7: Galamb borong (Traurige Taube) Nr. 9: Vertige (Schwindel) Nr. 10: Der Zauberlehrling Nr. 11: En Suspens (In der Schwebe) Nr. 12: Entrelacs (Verflechtungen) Nr. 13: L'escalier du diable (Die Teufelstreppe) Nr. 14: "Coloana infinita?" (Unendliche Säule) Zugaben: György Ligeti: Drei Bagatellen für Klavier (1961) Klavierfestival Ruhr 2023 - unsere Rezensionen im Überblick
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