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Ein Weltendrama von größtmöglicher Zärtlichkeit
Von Stefan Schmöe / Fotos: Christian Palm
Der Abend beginnt mit einem Weltabschiedswerk. Die Choralvorspiele op. 122 für Orgel hat Johannes Brahms im Frühjahr 1896 komponiert und sie sollten sein letztes Werk werden, entstanden unter dem Eindruck des Todes von Clara Schumann. Der Geist Johann Sebastian Bachs schwebt über den elf Stücken, von denen Ferruccio Busoni sechs für das Klavier bearbeitet hat, was den abgeklärten, nach innen gewandten Charakter der Musik noch unterstreicht. Aus dem Nichts lässt Igor Levit die Basslinie des ersten Choralvorspiels Herrlich tut mich erfreuen aufsteigen und betont mit diesem "pianistischen" Zugang die klangtechnischen Möglichkeiten des Klaviers. Die Spielanweisung dolce hat Vorrang vor dem ebenfalls geforderten mezzoforte, das hier als zartes piano beginnt und den introvertierten Tonfall, der diesen Abend prägt, umreißt. Levit imitiert nicht den großen Ton der Orgel, auch wenn er später (sehr sparsam) hier und da zu einem großformatigen Klang findet. Er hebt vom ersten Takt an die einkomponierte barocke Mehrstimmigkeit der Basslinie hervor und damit die Verbindung zu Bach und trifft in seinem disziplinierten, sich nie romantisch verlierenden Spiel den Charakter dieser Musik irgendwo zwischen Orgel und Klavier ganz hervorragend.
Es passt zu Levit, dass er das Programm ganz kurzfristig noch umstellt und statt der angekündigten Variations on a Folksong des Amerikaners Fred Hersch dessen Songs Without Words Book II spielt, die er erst einige Tage zuvor in Luzern uraufgeführt hatte und die damit in diesem Konzert in Wuppertal ihre deutsche Erstaufführung erleben. Mit dem als Jazz-Pianisten und -komponisten Hersch (* 1955) verbindet Levit eine enge Freundschaft (die beiden bestreiten noch einen gemeinsamen Klavierabend beim Klavier-Festival Ruhr, Hersch hat dazu mit seinem Trio noch einen Auftritt im Rahmen der JazzLine des Festivals). Die sechs Songs Without Words präsentieren sich als delikate Charakterstücke in durchaus romantischem Gestus, und auch wenn sie mit feiner Ironie durchzogen sind, fühlt man sich in die Zeit Ravels oder der Groupe de Six um Poulenc und Milhaud zurückversetzt. Jazz-Elemente sind hier und da hörbar, bleiben aber Randerscheinungen. Titel wie Little Nocturne oder Two Minute Waltz sind deutliche Reminiszenzen an Chopin. Levit spielt die kleinen Stücke mit viel Charme und lässiger Leichtigkeit und spannt souverän ausschwingende Bögen über manche ein wenig schematisch geratene Perioden. Die ganz große Begeisterung über diese Musik, die der Pianist bei ein paar einführenden Worten geäußert hatte, mochte man nicht teilen - dazu sind diese Lieder ohne Worte zwar hübsch, aber eben doch recht brav und arg rückwärtsgewandt geraten.
Der Wechsel von Bearbeitung und Original wie bei Brahms und Hersch setzt sich im zweiten Teil des Konzerts fort, der mit einer ziemlich puristischen Klavierfassung des Vorspiels zu Wagners Tristan und Isolde von Zoltán Kocsis beginnt. Kocsis verzichtet in seiner Bearbeitung auf eine vollgriffige pianistische Nachahmung des Orchesterklangs zugunsten einer sehr klaren, analytischen Fassung, und dem folgt Levit in seiner fein nuancierten, mitunter fast spröden Interpretation. Statt eines romantischen Klangrausches hört man eine sehr disziplinierte Studie über Wagner, die ihre ganz eigene Faszination aus Reduktion und Konzentration gewinnt. Ein wenig irritiert dabei, dass er den mysteriösen Tristan-Akkord recht nebensächlich behandelt, mehr wie eine interessante Klangfarbe denn als prägendes Element.
Levit schließt Liszts monumentale h-Moll-Sonate nahtlos an das Tristan-Vorspiel an, was womöglich als Pointe des fließenden, kaum erkennbaren Übergangs gedacht ist, indes wenig überzeugt - Wagner lässt das Vorspiel zur Oper ja in einer gewissen Ratlosigkeit verstummen, und das wäre auch dieser Klavierfassung angemessen gewesen, wie auch die Sonate einen suchenden Beginn aus der Stille heraus verdient hätte. Mit welcher sublimen Anschlagkultur Levit aber die pianistischen Anforderungen der Sonate bewältigt, wie er im Piano und Pianissimo noch differenziert und auf kleinstem Raum jedes Motiv ausphrasiert, das verschlägt den Atem. Er verzichtet dabei auf die große pathetische Geste. Die marcato-Repetitionen des Hammerschlag-Motivs hört man bei anderen Pianisten martialischer, das Grandioso-Thema triumphaler, das Fugato "barocker". Und Virtuosität wird zur Nebensache. Levit hört den leisen Tönen der Sonate nach und findet einen geradezu introvertierten Zugang: Liszts aufwühlendes Weltendrama wird zur inneren Angelegenheit, die auf jedes Auftrumpfen verzichtet. Klein wird die Sonate dabei keineswegs, im Gegenteil: Es ist wieder einer dieser großen Levit-Abende, bei dem jeder Ton seine ganz eigene Logik erhält und gar nicht anders klingen dürfte.
Wenn schon das Tristan-Vorspiel mit der Liszt-Sonate verschmilzt, kann man auch die Zugaben direkt aneinander anschließen, mag Levit sich gedacht haben, und verbindet Kind im Einschlummern und Der Dichter spricht aus Robert Schumanns Kinderszenen op. 15 zu einem sehr ruhigen Konzertabschluss, der auf Effekthascherei und Bravourakt demonstrativ verzichtet. Liszts Sonate klingt noch lange nach.
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Klavier-Festival Ruhr 2023 Historische Stadthalle Wuppertal 23. Mai 2023 AusführendeIgor Levit, KlavierProgrammJohannes Brahms:Sechs Choralvorspiele für die Orgel op. 112 Bearbeitung für Klavier von Ferruccio Busoni Herzlich tut mich erfreuen op. 122/4 Schmücke dich, o liebe Seele op. 122/5 Es ist ein Ros' entsprungen op. 122/8 Herzlich tut mich verlangen op. 122/9 Herzlich tut mich verlangen op. 122/10 O Welt, ich muss dich lassen op. 122/11 Fred Hersch: Songs without Words, Book II Little Nocturne The Old Country Canzona The Two Minutes Waltz Soliloqui Coro del Carneval Richard Wagner: Vorspiel zu Tristan und Isolde Bearbeitung für Klavier von Zoltán Kocsis Franz Liszt: Sonate h-Moll S178 Zugaben: Robert Schumann: Kind im Einschlummern Der Dichter spricht aus: Kinderszenen op. 15 Klavierfestival Ruhr 2023 - unsere Rezensionen im Überblick
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