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Zu Chaplins Humor wird Helge Schneider seriös
Von Stefan Schmöe / Fotos von Peter Wieler
An diesem Abend verneigt sich die Klavierwelt vor der großen Martha Argerich, die ihren 82. Geburtstag feiert. Sie wird einen Tag später beim Klavier-Festival Ruhr konzertieren (gemeinsam mit dem Cellisten Mischa Maisky). An ihrem Geburtstagsabend aber sitzt die große alte Dame des Klavierspiels in Deutschlands größtem Kinosaal in der (ausverkauften) Lichtburg in Essen, einem historischen Bau von 1928, erneuert 1948 - 50 und mit dem nostalgischen Flair einer Zeit, als Kinos noch imposante Lichtspieltheater waren. Gezeigt wird The Kid von Charlie Chaplin aus dem Jahr 1921 - ein ikonographisches Werk der Stummfilmära. Die Musik dazu wird live improvisiert. Am Klavier sitzt Helge Schneider. Das ist der Mann mit dem Song Katzeklo.
Einer der spannenden, wenn auch einigermaßen verwässerten Programmschwerpunkte des aktuellen Klavier-Festivals ist das Jahr 1923 - das Jahr, in dem The Kid in die deutschen Kinos kam und Chaplin in der Figur des "Tramp" als verarmter Überlebenskünstler auch im von der Ruhrkrise (der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen) und Hyperinflation gebeutelten Deutschland den Zeitgeist traf. Mit rund einer Stunde Spieldauer handelt es sich um den ersten Langfilm Chaplins, und eine Musik komponierte der Regisseur und Hauptdarsteller selbst, aber erst sehr viel später bei der Revision 1971. Die Konzertsituation mit Live-Improvisation entspricht also einigermaßen authentisch einer Aufführung im Jahr 1923, auch wenn da in der Regel kein etablierter Künstler am Instrument gesessen haben dürfte wie in diesem Fall Helge Schneider. Der ist, in Mülheim geboren und aufgewachsen, ein Kind des Ruhrgebiets und verkörpert auch als Kunstfigur den bräsigen, unintellektuellen, kleinbürgerlichen Typus, den man ganz gut hier verorten kann, auch wenn er keineswegs den Kumpel von der Trinkhalle nebenan gibt. Einer von hier ist er trotzdem. Auch das ist authentisch. Und er spielt das Programm an diesem Tag zweimal, einmal am Nachmittag vor Schülerinnen und Schülern (angeblich ohne den Film vorher gesehen zu haben), und dann am Abend (hier besprochen) vor dem Festspielpublikum, unter das sich etliche gemischt haben, die vermutlich eher wegen Schneider als wegen Klaviermusik gekommen sind. Verbindender war das Klavier-Festival Ruhr selten.
Schneider beginnt und beendet seinen Auftritt als Kabarettist, begrüßt mit einem Tusch den Intendanten des Festivals, Franz-Xaver Ohnesorg, plaudert in gewohnter Manier mit profund gespieltem Halbwissen und seiner absonderlichen Komik, an der sich seit je die Geister scheiden - kann man mögen, muss man aber nicht. Bei der Zugabe erweist er sich als veritabler Jazz-Pianist und zieht etliche pianistische Register vielleicht ganz besonders für diejenigen, die mit seinen betont umständlichen humoristischen Ausführungen wenig anfangen können. Das ist eben die andere Seite hinter den konsequent albern-banalen Liedchen wie dem vom Katzeklo: Schneider ist ein guter Musiker und Pianist. Bei der Begleitung des Films erlebt man dann einen anderen Helge Schneider; einen, der sich ganz in den Dienst der Sache stellt und hinter Charlie Chaplin zurücktritt. Cineasten dürfen also beruhigt sein: The Kid wird keineswegs zur Helge-Schneider-Show.
Der improvisiert die Begleitung in größeren Zusammenhängen. Chaplins Tramp wird mit Ragtime- und Foxtrott-Klängen musikalisch charakterisiert und bekommt damit auch akustisch das swingende, leichtfüßige Element, das der Filmfigur eigen ist. Im Kontrast dazu stehen die pathetischen Szenen der Rahmenhandlung, in der eine Frau, "deren einzige Sünde es war, Mutter zu werden", verzweifelt das Neugeborene aussetzt - in der Limousine reicher Leute. Nur blöd, dass Gangster just in diesem Moment den Wagen klauen und das Kind dem verarmten Tramp in die Arme fällt, der es nicht mehr loswird und großzieht - bis die Mutter, inzwischen zu Reichtum und Popularität gekommen, ihr Kind wiedererkennt und aufnimmt. Chaplins Hang zum Pathos unterläuft Schneider mit perlenden Arpeggien, die zwar oberflächlich nach Sentiment klingen, aber an die Klangwelt Debussys und dessen Préludes erinnern, die ja mitunter gar nicht weit weg ist vom Jazz. Schneider spielt zurückhaltend und ohne großes Auftrumpfen, das überlässt er den Bildern. Die Übergänge gelingen ihm meist fließend (wenn es gelegentlich kurz zu stocken scheint, dann erinnert das tatsächlich an den Entertainer Schneider, der gerne mit solchen Elementen spielt). Schneider verzichtet darauf, einzelne Szenen kleinteilig akustisch zu vergrößern, und insbesondere auch auf Mickey Mousing (also die unmittelbare Umsetzung von Gesten und Bewegungen wie eine aufsteigende Tonleiter beim Hinauflaufen auf einer Treppe). Die improvisierte Tonspur klingt weitgehend autark und bewegt sich zwischen Spätromantik und frühem Jazz eher in der Klangwelt um 1900 herum als um 1923. Sie drängt sich nicht auf, gibt sich gleichwohl gehaltvoll. Überflüssig zu erwähnen, dass Schneider das alles mit großer Souveränität spielt.
Zumindest dieser Teil dürfte auch Martha Argerich gefallen haben, der Helge Schneider dann auch noch in unnachahmlicher Weise gratuliert und sie gleichzeitig zur Randfigur macht neben seiner übergroßen eigenen Erscheinung. Und knapper als hier kann das obligate Happy Birthday am Klavier nun wirklich nicht ausfallen. Argerich wird's verschmerzen. Das Publikum fordert eine weitere Zugabe, und ganz kurz sieht es so aus, als bekäme es die auch. Doch dann befindet Schneider: "Eigentlich habe ich jetzt gar keine Lust mehr". Und geht. Vor ein paar Jahren hat er mal spektakulär mit gleichem Argument ein Konzert abgebrochen, als ihm die Rahmenbedingungen missfielen. Helge Schneider ist eben Helge Schneider. Und ein sehr guter Filmbegleiter.
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