- Ruhrtriennale 2023: Aus einem Totenhaus / Online Musik Magazin

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Aus einem Totenhaus

Oper in drei Akten
Text von Leoš Janaček
nach Fjodor M. Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhause
Musik von Leoš Janaček


in tschechischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

Dauer: ca. 1h 45' (keine Pause)

Premiere am 31. August 2023, Jahrhunderthalle Bochum
(rezensierte Aufführung: 2. September 2023)

Logo: Ruhrtriennale 2023

Die begrenzten Möglichkeitsformen des Menschseins

von Stefan Schmöe / Fotos © Volker Beushausen, Ruhrtriennale 2023

In jeder Kreatur ein Funke Gottes: Um diesen Satz Dostojewski, den Leos Janaček der Partitur seiner Oper Aus einem Totenhaus vorangestellt hat, kreist notwendigerweise die Rezeption des Werkes. Die musiktheatralische Schilderung des Gefangenenalltags in einem sibirischen Straflager in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die auf Dostojewskis halbdokumentarische Aufzeichnungen aus einem Totenhaus zurückgehen (der Dichter war selbst als politischer Gefangener vier Jahre in einem solchen Lager interniert) und fast ohne direkte Handlung auskommt, legt aus verschiedenen Gründen mindestens Empathie, wenn nicht Solidarisierung mit den Gefangenen (es sind durchweg Männer) nahe. Da ist zum einen die verkürzte Rezeption des Komponisten Janaček als einfühlsamem Schöpfer leidender Frauengestalten wie Jenufa und Katja Kabanova (auch wenn sich schon in Das schlaue Füchslein eine Abkehr von diesem "romantischen" Prinzip vollzieht). Weiterhin wird das zaristische Straflager, später der GULag, in der westlichen Welt schnell als ein Ort identifiziert, an dem der Kreml sich bis heute missliebiger (aber im liberalen Sinn unschuldiger) Dissidenten entledigt. Schließlich hat in der Literatur wie auch auf dem Theater die Aufarbeitung der Täterpsyche eine starke Rolle eingenommen - von Schillers wirkungsmächtigen Räubern über Goethes Kindsmörderin Gretchen bis zu Büchners (und Alban Bergs) Woyzeck. Ganz davon abgesehen, dass die christliche Kultur auf der grausamen Kreuzigung eines Unschuldigen aufbaut.

Vergrößerung in neuem Fenster Ankunft im Lager: Gorjančikov wird gedemütigt.

Diese Perspektivverschiebung auf den Täter legt ein Missverständnis nahe, insbesondere wenn diese Neuproduktion von Aus einem Totenhaus als "immersive" Inszenierung angekündigt wird und man bei der Kartenbestellung zwischen den Kategorien "Gefängnishof", "Seitenhof" und "Galerie" wählen muss. Da war zu befürchten, dass man für zwei überschaubare Stunden quasi als Mitgefangener die Grausamkeit des Lagers schaurig-wohlig am eigenen Leibe erspüren und via verordnetem Stockholm-Syndrom zum empathischen Verbündeten der entwürdigten Schwerverbrecher werden solle, um sich anschließend beim Prosecco genüsslich über die neu gewonnen Erfahrungswelten auszutauschen. Um es kurz zu machen: Dem ist nicht so, und das ist weder Intention noch unfreiwillige Nebenwirkung der Regie von Dmitri Tcherniakov. Dessen Ansatz besteht vielmehr darin, die Distanz zwischen Bühnenfiguren und Publikum aufzuheben: Wir Zuschauende sind diesen Straftätern fast ununterscheidbar ähnlich, aber nicht im Sinne der erduldeten Strafe, sondern in den Mechanismen, die einen Menschen zum Täter macht, und auch das im doppelten Sinn. Täter sind die Akteure nicht nur der Verbrechen wegen, die zur Verurteilung geführt haben, sondern viel eher wegen ihres Auftretens im Lageralltag, der von einer brutalen Hack- und Rangordnung bestimmt ist.

Vergrößerung in neuem Fenster Feiertag (2. Akt)

Tcherniakov hat über die gesamte Länge der großen Jahrhunderthalle eine dreistöckige Metallkonstruktion einbauen lassen, die formal wie ein Gefängnishof aussieht und auf der sich das Publikum (soweit es nicht neben den Sängern im Innenhof steht) verteilt und somit wie zuschauende Mitgefangene agiert. Das wirkt einerseits wie ein extremer Realismus, weil man direkt einbezogen wird (und die Sängerdarsteller Alltagskleidung tragen und fast ununterscheidbar sind von den Besuchern, die ruhrtriennalegemäß selten im feinen Anzug erscheinen); auf der anderen Seite verzichtet er auf jegliche Requisiten, die einem Gefängnis zuzuordnen sind - es gibt kein Wachpersonal, keine Waffen, Stacheldraht oder verschlossene Türen. Was das Leben hier zur Hölle macht, sind, Sartre lässt grüßen, die anderen, die Gesellschaft mit ihren Machtmechanismen. Wobei auch das nicht richtig ist, denn eines wird auch schnell deutlich: Tcherniakov kann mit dem Zitat vom göttlichen Funken in der menschlichen Kreatur nicht viel anfangen und hält es eher mit Georg Büchner und dem Woyzeck (der aufgrund eines Irrtums bei Alban Berg zum Wozzeck) wurde: Der Mensch ist ein Abgrund. In Tcherniakovs düsterer Gesellschaftsanalyse braucht es keine schicksalhafte Vorgeschichte, die den Menschen zum Täter werden lässt. Im banalen Überlebenskampf des Lagers, das hier gleichsam zum Spiegel des alltäglichen Zusammenlebens wird, zeigt sich die tierische Natur. Der Firnis der Zivilisation ist nicht nur in Extremsituationen denkbar dünn.

Vergrößerung in neuem Fenster Der dritte Akt wird zum Kammerspiel: Links Gorjančikov; auf dem Tisch: Šiškov erkennt in Luka (mit dem Rücken zum Betrachter) seinen Widersacher; auf dem Tisch liegend: Der junge Tartar Aljeja, vorne rechts der alte Sträfling.

In diesem Kontext wird zunehmend fraglich, ob die drei ausführlichen Erzählungen der Gefangenen Luka (der einen Offizier erstochen haben will), Skuratow (Mord an einem reichen Kaufmann, der ihm die Geliebte ausgespannt hat) und Šiškov (Ermordung der eigenen Frau, weil diese ihre Liebe zu einem anderen ausspricht) überhaupt der Realität entsprechen oder der Fantasie entspringen: Klägliche Versuche, sich eine irgendwie moralische Basis zu verschaffen. Der Klumpfuß des jungen Tartaren Aljeja könnte ebenso Einbildung sein wie die Freilassung des angeblich politischen Häftlings Gorjančikov. In Tcherniakovs pessimistischer Sicht ist der Gedanke auf eine Entlassung ohnehin absurd, weil es keine Welt jenseits des Lagers gibt. Das Lager ist überall, es ist die Welt. Es bleibt nur, sich zu fügen. Die Möglichkeitsformen des Menschseins - die Formulierung stammt von der Psychologin Nahlah Saimeh aus einem sehr lesenswerten Interview im Programmbuch der Ruhrtriennale - sind, das ist die ziemlich trotlose Botschaft, begrenzt.

Vergrößerung in neuem Fenster Waren alle Geschichten nur erträumt? Auf dem Tisch liegend Aljeja, sitzend von links im Uhrzeigersinn: Der alte Sträfling, Čekunov, Luka, Čerevin, Gorjančikov und Šiškov

Janaček erzählt seine Oper längs der Geschichte von Gorjančikov, von dessen Ankunft im Lager bis zur Freilassung. Tcherniakov greift das insofern auf, als er die Oper als Stationendrama anlegt, die drei Akte in drei verschiedenen Höfen ansiedelt (das Publikum wandert mit). Damit gelingt der Ruhrtriennale endlich wieder eine große Opernproduktion, die mit den Möglichkeiten des riesigen Raumes spielt (wie etwa 2006 David Poutneys spektakuläre Inszenierung von Bernd Alois Zimmermanns Soldaten) und nicht in einen "normalen" Theaterbau übertragen werden könnte. Der erste Akt ist gekennzeichnet von körperlicher Gewalt, mit der die Rangordnung festgelegt ist. Dazu prügelt sich eine Gruppe von Stuntmen durch die Szenerie, was allerdings auch nicht anders aussieht, als prügele sich eine Gruppe von Stuntmen mit virtuoser Körperbeherrschung. Mehr action als Drama - das ist der schwächste Punkt der Regie. Im Zentrum des zweiten Akts, bei Janaček das Osterfest mit einigen kleinen Freiheiten für die Gefangenen, steht eine veritable Schlacht mit Fäkalien; im dritten sitzen die Protagonisten ernüchtert an einem langen Tisch. Wenn man so will: Eine Parodie auf Inferno (Hölle), Purgatorio (Fegefeuer) und Paradiso (Paradies). Eliminiert hat Tcherniakov alle "romantischen" Zutaten, insbesondere die Episode mit dem verletzten Adler, der von den Gefangenen aufgepäppelt und schließlich, parallel zum Schicksal Gorjančikovs, in die Freiheit entlassen wird: Hier wenden sich die Mitgefangenen mit beißender Ironie direkt an Gorjančikov, wenn vom Adler die Rede ist. Und die einzige verbliebene Frauenrolle, der kurze Auftritt einer Prostituierten, ist hier einem Mann mit hoher Stimme überlassen.

Vergrößerung in neuem Fenster Raumsituation in der Jahrhunderthalle

Ihre immense Spannung erhält die Aufführung aus der exzellenten Personenregie, die aus der Musik heraus entwickelt ist und von einem durchweg hervorragenden Ensemble mitreißend umgesetzt wird. Allen voran liefern Leigh Melrose (Šiškov), John Daszak (Skuratov) und Stephan Rügsamer (Luka) vokal wie darstellerisch packende Rollenportraits. Johan Reuter gibt den Gorjančikov überwiegend als abwartenden Beobachter, mit warmem Bariton sanfter timbriert als die anderen und damit noch diejenige Gestalt, in der sich eine Spur Hoffnung auf eine humanere Welt verbirgt. Die kleine Rolle des alten Sträflings wird szenisch zu einer Hauptrolle aufgewertet und ist mit dem großen Neil Shicoff prominent besetzt. Singen darf er kaum, aber mit dem wichtigen Satz "auch er hat eine Mutter" (bezogen auf den bei Janaček am Ende unter der Verachtung aller anderen sterbenden Luka) wird er in der Oper zum Mahner, und das gesteht ihm sogar Tcherniakov zu. Aber auch alle anderen Darsteller leisten Außerordentliches - kein Satz, keine gesungene Phrase, die nicht sorgsam szenisch wie vokal ausgestaltet wäre.

Mit bewundernswerter Souveränität leitet Dirigent Dennis Russel Davies von der Seite aus die Aufführung, der man nicht einen Augenblick die immensen Schwierigkeiten nicht zuletzt durch die großen Abstände anhört. Die sehr guten Bochumer Symphoniker sind seitlich postiert. Durch die unglaubliche Präsenz der Sängerdarsteller gerät der Orchesterpart ein wenig in den Hintergrund, schon der Lautstärke wegen. Aber auch das gehört zum Konzept: Die Musik kann hier nicht tröstlich auffangen, was dem Publikum inhaltlich an Härte zugemutet wird. Dabei klingt das Orchester insgesamt eine Spur zu schön, zu romantisch; man hat schon schroffere Interpretationen gehört. Ein Funken Gottes bleibt also wenigstens in der Musik erkenntlich.

FAZIT

Eine großartige und gleichermaßen bedrückende Produktion mit einem hervorragenden Ensemble, die aus den räumlichen Möglichkeiten der Jahrhunderthalle eine Theaterform entwickelt, die so im Bühnenalltag wie im oft austauschbaren Festivalbetrieb nicht möglich ist - eine Sternstunde in der Geschichte der Ruhrtriennale. Und gleichzeitig eine düstere Weltsicht, wie so trostloser kaum sein könnte.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Dennis Russell Davies

Inszenierung und Bühne
Dmitri Tcherniakov

Kostüme
Elena Zaytseva

Lichtdesign
Gleb Filshtinsky

Live Action Director
Ran Arthur Braun

Sound Design
Thomas Wegner

Dramaturgie
Barbara Eckle


Chor der Janaček-Oper des Nationaltheaters Brno

Bochumer Symphoniker


Solisten

Alexandr Petrovič Gorjančikov
Johan Reuter

Aljeja, ein junger Tatar
Bekhzod Davronov

Šiškov
Leigh Melrose

Luka (Filka Morosow)
Stephan Rügamer

Skuratov
John Daszak

Šapkin
Alexey Dolgov

Der Alte
Neil Shicoff

Čerevin / Fröhlicher Sträfling
Elmar Gilbertsson

Čekunov, / Sträfling 1
Stephan Bootz

Der ganz alte Sträfling
Johannes Mertes

Platzkommandant
Peter Lobert

Kleiner Sträfling / verbitterter Sträfling
Lluís Calvet y Pey

Kedril / junger Sträfling
Alexander Fedorov

Sträfling a / Don Juan (Brahmane)/Teufel
David Nykl

Großer Sträfling / Sträfling 3 / Schauspieler
Robin Neck

Sträfling mit Adler / betrunkener Sträfling / Sträfling 2
Alexander Kravets

Koch / Sträfling (b) / Schmied
Anatolii Molodets

Dirne
Vladyslav Shkarupilo


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