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Geräusch ab!von Stefan Schmöe / Fotos © Christian Palm, Ruhrtriennale 2023
Was der junge Carlos Kleiber noch zu sagen hatte: "Ta-ta-ta-ta-ta-ta-ta-tamm". Die winzige Sequenz aus einem Probenmitschnitt des Südwestrundfunks wird im Bild gezeigt, die Sprachmelodie Kleibers vom Chor wiederholt, dadurch pathetisch überhöht, und dann auch noch fragmentiert vom Orchester und der Bigband aufgegriffen. Der Konzerttitel Play Big! verspricht nicht zu viel, denn an diesem Abend wird in der Jahrhunderthalle tatsächlich ein riesiges Ensemble aufgeboten, bestehend aus einem großen Sinfonieorchester (der Basel Sinfonietta), der NDR-Bigband und einem Chor (dem Chorwerk Ruhr), alle mit eigenem Dirigenten (Titus Engel, Thorsten Wollmann, Michael Alber), und über allem schwebt eine Leinwand mit Videoinstallation. Der dänische Komponist Simon Steen-Andersen (*1976) hat das in ironischer Bescheidenheit (aber Großbuchstaben) TRIO benannte Werk mit einer Spieldauer von 48'30'' für die Donaueschinger Musiktage 2019 komponiert und rechnet darin auf absurde Weise mit dem europäischen Musikbetrieb ab.
Steen-Andersen hat das Videoarchiv des Südwestrundfunks geplündert und etliche Ausschnitte aus historischen Filmaufnahmen - Proben- und Konzertmitschnitte aus allen Genres - collagenartig gegeneinander geschnitten. Selten dauert ein Filmschnipsel länger als ein paar Sekunden. Der originale Ton wird postwendend live beantwortet, wodurch in aberwitziger Gestalt kompositorische Modelle wie auf- und absteigende Tonleitern entstehen. Dabei hat der Komponist keine einzige Note selbst komponiert, sondern ausschließlich bestehendes Material neu zusammengesetzt - in der Partitur stehen auch liebevoll Hinweise, bei welchem Komponisten gerade geklaut wird. Was selten hörbar ist, weil es sich oft um einzelne Akkorde oder Klänge handelt. Man ahnt immer wieder mal Webers Freischütz; die einzig längere, einigermaßen unverfälschte Passage ist Händels Oratorium Israel in Egypt vorbehalten. Zwischendurch gibt es auch Szenen aus einem Film, der Blicke hinter die Kulissen des Senders gibt; da sieht und hört man etwa Tontechniker mit der Anweisung "Geräusch ab", was die Klangkörper auf der Bühne lustvoll mit knalligen Akkorden umsetzen. Bei der Auswahl der Bilder und Töne ist Steen-Andersen ziemlich respektlos vorgegangen, zeigt durch die historischen Bilder oft blasierte Musiker und einen bornierten Musikbetrieb von großer Künstlichkeit. Das ist oft sehr lustig, in manchen Wiederholungsschleifen nervtötend und in der Verdichtung durchaus anstrengend. Und es ist gleichzeitig ein großes, ganz wunderbares Spektakel, von den live Beteiligten mit verblüffender Präzision und Sicherheit zur Aufführung gebracht.
Die Ruhrtriennale und die koproduzierende Basel Sinfonietta setzen diesem monumentalen TRIO vor der Pause eine eigens für diese Produktion in Auftrag gegebene Komposition von Michael Wertmüller (*1966) für dieselbe Besetzung (ohne Video) entgegen - wenn man schon einmal einen solchen Klangkörper beisammen hat, soll man die Gelegenheit auch nutzen. Hier reicht jedoch ein Dirigent aus; Titus Engel leitet die Aufführung mit stoischer Gelassenheit. Den jiddischen Titel des etwa 35-minütigen, dreisätzigen Werkes Shlimazl (ins Deutsche als "Schlamassel" eingegangen) darf man wohl als selbstironischen Kommentar angesichts der hier zu bändigenden Klangfülle bezeichnen. Wertmüller mischt Musikstile zwischen "klassischer" Musik und Jazz. Die Ensembles befeuern sich gegenseitig, die Musik ist schwungvoll und mitreißend. In der Klangfülle verlieren sich allerdings die Details, und nach der Ökonomie der Mittel fragt man besser gar nicht erst. Bei Steen-Andersen repräsentieren Chor, Orchester und Bigband die Säulen des Musikbetriebs am Beispiel eines in dieser Hinsicht bedeutendsten europäischen Rundfunksenders und behalten ihre Autonomie (eine Annäherung ist überhaupt nicht Ziel der Komposition). Bei Wertmüller dagegen erscheint die Trennung nicht mehr strukturbedingt, es sind vielmehr klangliche Facetten im Versuch, Stilgrenzen zu schleifen. Ob da nun ein paar Instrumente oder gar Instrumentengruppen mehr oder weniger spielen, ist im Grunde unerheblich (anders als bei Steen-Andersen, bei dem durch die Größe ein - auch kulturpolitischer - Anspruch formuliert wird). Shlimazl ist großes Spektakel, toll zu hören und sehen (schon des virtuosen Schlagzeugsolisten Lucas Niggli wegen - Kalle Kalima als Solist an der E-Gitarre kann sich nicht so effektvoll in Szene setzen), hat aber keine vergleichbar zwingende Idee.
Das wird auch im Kontrast zum ersten und kürzesten Werks des Abends deutlich, der Revuemusik von Altmeisterin Sofia Gubaidulina (*1931). Als Auftragswerk für einen (letztendlich nie eröffneten) Konzertsaal 1976 in der Sowjetunion komponiert (später 1995 und 2002 überarbeitet), lässt die von der Grundhaltung her sehr ernste Komponistin zwei Welten aufeinanderprallen. Dem geradezu mystischen Beginn mit leisen Glocken setzt die Bigband ihren spezifischen Drive entgegen. In dem knapp zehn Minuten langen Stück nähern sich beide Ensembles an, überlagern sich erst zaghaft, um dann im Sound schlechter Filmmusik pathetisch zu verschmelzen. Auch hier haben die Ensembles eine über die Komposition hinausgehende Bedeutung, stehen für konträre Genres und eine gewisse Skepsis gegenüber einer wechselseitigen Durchdringung. Gleichzeitig hat die Musik viel Witz und eben auch gehörige Selbstironie, was sie über den Status eines Gelegenheitswerkes hinweg hörenswert macht.
Nein, für den Repertoirebetrieb ist die Kombination aus Chor, Orchester und Bigband natürlich keine praktikable Lösung. Einen musikerzieherischen Anspruch hat das Projekt auch gar nicht. Das Publikum der Ruhrtriennale, am Ende dieses Konzerts in einem Zustand zwischen Begeisterung und Erschöpfung, ist ohnehin Grenzüberschreitungen gewohnt. Aber ausgefallene Produktionen wie diese tragen ganz erheblich zum besonderen Reiz dieses Festivals bei: Kurz vor dem Abschluss der Intendanz von Barbara Frey ist dies noch einmal ein großer Abend für die Ruhrtriennale.
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Ausführende
Musikalische Leitung
Dirigent Bigband
Dirigent Chorwerk Ruhr
Schlagzeug
E-Gitarre
Werke
Sofia Gubaidulina:
Michael Wertmüller:
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