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Gesellschaftsutopie auf Rollenvon Stefan Schmöe / Fotos © Katja Illner, Ruhrtriennale 2023
Kann ein Skatepark ein Modell für unsere Gesellschaft sein? "Ich hatte das Gefühl, eine außergewöhnlich heterogene Gemeinschaft zu erleben, die auf sehr organisierte Weise miteinander existiert", sagt die 1980 geborene dänische Choreographin und Tänzerin Mette Ingvartsen über ihre Beobachtung in einem Skatepark in Brüssel, in dem sie viel Zeit mit ihren Kindern verbracht hat. Daraus erwuchs eine Choreographie, die im April dieses Jahres in Angers uraufgeführt und nach diversen Stationen in Frankreich und bei den Wiener Festwochen nun bei der Ruhrtriennale in Bochum angekommen ist. Deshalb gleich zu behaupten, die Choreografin "verwandle die Jahrhunderthalle in einen Skatepark", wie man auf der Website der Ruhrtriennale nachzulesen kann, ist allerdings ziemlich übertrieben. In der kleinen Halle vier erlebt man die Produktion in einer konventionelle Theatersituation mit Zuschauertribüne und Bühne, auf der ein Skatepark aus Holz aufgebaut ist. Die Performer:innen sind stark individualisiert, und weil einige Skater:innen aus der Region in der offenen Eingangssequenz (schon während des Einlasses) über die Bühne skaten, öffnen sich die Grenzen zwischen Realität und Theater. (Warum aber werden diese "lokalen Skater:innen namentlich nicht genannt, wofür man freilich einen Besetzungszettel hätte drucken müssen? Im Programm der Wiener Festwochen war das anders.)
Um artistische Kunststücke geht es Mette Ingvartsen nur insofern, als diese das Zentrum einer Skater-Community bilden: Eine Art Zirkus soll die Choreografie nicht sein, auch wenn es beispielsweise eine Art Wettbewerb gibt, wer den höchsten Stapel an Skateboards überspringen kann. Aber das Scheitern hat mindestens genauso große Bedeutung wie der Erfolg. Stürze gehören als Gegenpol zum Sprung unweigerlich dazu. Pina Bausch hätte wohl, ein Gedankenspiel, eine tragikomische und konsequent artifizielle Sequenz des Stürzens an sich inszeniert; Ingvartsen dagegen seziert die Situation nicht, sondern behält einen distanzierten, geradezu dokumentarischen Blick auf das Geschehen: Stürze werden nicht inszeniert, sondern bleiben organischer Bestandteil des Skaterlebens. Als des Skatens unfähiger Laie staunt man über die Virtuosität des Abrollens bei einem solchen Unfall - Stürzen will gelernt sein. Sich ausprobieren, scheitern, aufstehen, weitermachen, Erfolg haben - man kann in dieser Abfolge ein parabelhaftes Moment für das Leben an sich erkennen, ohne dass die überhaupt sehr unangestrengte Choreografie sich didaktisch geben würde.
Zu Beginn tragen einige Performer:innen gesichtslose Masken mit leeren Augenhüllen, was eine gespenstische Wirkung hat. Am Ende, nachdem die Bühne in Dunkelheit versunken ist, sind es andere Masken, wie Fantasiewesen, durch die sich die ausgeprägte menschliche Individualität in etwas nicht mehr Greifbares verwandelt. Man mag darin, wie der (nur als Audiodatei verfügbare) Einführungsvortrag angibt, Geburt und Tod und damit einen Lebenszyklus sehen, was ein wenig bemüht klingt - zumal auf der Bühne ausschließlich junge und sehr junge Menschen agieren. Skaten ist eben auch eine Frage des Alters. Das ist wohl der schlüssigere Zugang: Die Gruppe, die hier gezeigt wird, ist der Vergänglichkeit unterworfen, existiert nur im Moment. Damit ist sie weniger Abbild als vielmehr ein utopischer Gegenentwurf zur Gesellschaft an sich, nicht nur im Umgang mit dem regelmäßigen (lächelnd hingenommenen) Scheitern, sondern auch im liebevoll-freundlichen Umgang miteinander. Man hilft einander auf, organisiert sich nach ungeschriebenen Regeln, niemand beharrt auf vermeintliches Recht, Erfolge werden gemeinsam gefeiert, es gibt keine vorherrschende Machtstruktur. Unterschiedliche Fähigkeiten werden anerkannt, Schwächere müssen sich nicht unterordnen. Man darf Fehler machen. Das Leben könnte so schön sein, würde es immer den Regeln dieses Skateparks folgen.
Gleichwohl wird deutlich, dass es sich hier um Jugendkultur jenseits der Theater und Festspielhäuser handelt, in denen das Stück nun präsentiert wird. Bauzäune und Wellblech verorten den Raum am Rand der bürgerlichen Gesellschaft. Die Musik wird teilweise live gesungen und von der E-Gitarre gespielt, teilweise mit elektronischen Klängen aus der Techno-Sphäre unterlegt. Dazu tanzen die Akteure wie in der Disco, in kurzen Phasen wird auch gechillt. Zwei Tänzerinnen bewegen sich auf Rollschuhen zwischen den Skateboardern, und ab und zu gibt es spektakuläre Breakdance-Einlagen ohne Räder und Rollen. Die Musik ist laut, das Tempo ist hoch, und natürlich ist es eine Plattitüde, von der immens hohen Energie zu sprechen, die vom Bühnengeschehen ausgeht - richtig ist es trotzdem.
In der Jahrhunderthalle taucht man an diesem Abend für mitreißende eineinviertel Stunden ein in eine sehr dynamische, gleichzeitig anarchisch freie und doch komplex durchorganisierte, auf wilde Weise sympathische Welt ein.
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Produktionsteam
Konzept, Choreografie
Choreographie Assistenz
Sound Design
Licht Design
Szenografie
Dramaturgie
Kostüme
Tänzer*innenDamien DelsauxManuel Faust Aline Boas Mary-Isabelle Laroche Sam Gelis Fouad Nafili Júlia Rúbies Subirós Thomas Bîrzan Briek Neuckermans Indreas Kifleyesus Arthur Vannes Camille Gecchele lokale Skater:innen weitere Berichte von der Ruhrtriennale 2021 - 2023 Homepage der Ruhrtriennale Die Ruhrtriennale in unserem Archiv |
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