Es gibt aber eine andere, musikalisch durchaus wirkmächtige Stelle, am Ende des zweiten Teils: Da singt der Erzengel Gabriel "Du nimmst den Odem weg; in Staub zerfallen sie", und da hält Haydn die Musik quasi an. In der Interpretation von Jordi Savall und den von ihm gegründeten Ensembles La Capella Nacional de Catalunya und Le Concerts des Nations werden diese Takte zum atemberaubenden Schlüsselmoment, dem Punkt, von dem aus die Welt aus den Angeln gehoben werden kann: Das Paradies ist jederzeit gefährdet. Man muss das jubelnde Gotteslob fortan vor diesen Takten hören. Und natürlich auch vor dem Hintergrund des Chaos', das Haydn grandios und unverändert faszinierend in der Ouvertüre vorstellt (und dem er triumphal das aufklärerische Licht in C-Dur-Fortissimo entgegensetzt). Jetzt liegt es am Menschen, etwas aus dieser Schöpfung zu machen.
Das Orchester Le Concerts de Nations spielt in kleiner Besetzung von 36 Musikerinnen und Musikern auf historischen Instrumenten, trumpft daher weniger mit Lautstärke und Brillanz auf (wie die in Salzburg allgegenwärtigen Wiener Philharmoniker es könnten), sondern mit einem von den Naturtrompeten überlagerten Klang, in den sich die etwas schnarrenden, gedeckten Oboen einfügen. In der Vorstellung des Chaos dürfte dieser Klang in den Streichern noch konturierter sein, Savall neigt zu einem Mischklang, der mitunter auch manches Detail verschleiert, und die Balance mit den (etwas zu leisen) Holzbläsern bleibt fragil. Die aufsteigende Tonleiter der Klarinette - ein Versuch, den Nebel zu durchbrechen - bleibt allzu nebensächlich. Wobei alle Triumphgesten (davon gibt es viele) eher verhalten musiziert werden. Auf Überrumpelung und äußeren Glanz (keineswegs abwegig, ist die Schöpfung doch unter dem Eindruck von Händels monumentalen Oratorien wie Israel in Egypt und The Messiah entstanden) ist Savall nicht aus, sondern auf den intimen Rahmen. Er dirigiert eher für das Palais als für den großen Konzertsaal. (Am Rande: Die gewaltige Bühne der Felsenreitschule ist dafür geschickt durch ein paar Wände optisch verkleinert worden, und ein mit viel Understatement von der Beleuchtung nur gestreiftes Blumenmeer auf der linken Seite verwandelt sie in einen hortus conclusus).
Jordi Savall zwischen Flore van Meerssche (links) und Giulia Bolcato
Es ist mehr als eine Phrase, dass Savall die Partitur mit viel Liebe ausmusiziert; man hört die intensive Beschäftigung, aber eben auch das Mitfühlen in jedem Takt, ohne dass Savall die tonmalerischen Feinheiten irgendwie pädagogisch in den Vordergrund stellt. Was nicht heißt, dass diese unterschlagen werden. Die frisch erschaffenen Sterne funkeln im kecken Staccato des Hammerklaviers (großartig: Michael Behringer) mit sanfter Ironie und einer gehörigen Portion Humor, und noch schöner als die strahlende Sonne geht sanft silbrig der Mond im Orchester auf. In solchen Momenten zeigt das Orchester die reiche Farbpalette. Im dritten Teil unterstreicht Savall den Wechsel von der Schöpfungserzählung zur (stärker im "empfindsamen Stil" komponierten) intimeren Schilderung von Adam und Eva im Paradies. Da hat der Mensch als gesellschaftliches Wesen die Bühne betreten.
Der mit 20 jungen Sängerinnen und Sängern - fünf je Stimme - besetzte Chor La Capella Nacional de Catalunya besitzt einen weichen, sehr homogenen Klang, der mehr auf Verschmelzung der Stimmen denn auf klare Abgrenzung setzt. Ungeachtet der vor allem durch Händel initiierten Popularität der Gattung Oratorium, die den Chor in das Zentrum des Geschehens stellt, bilden hier in der Gesamtdisposition Chor und Orchester eine Einheit, vor der sich die Solisten mit der Erzählung abheben. Gleichwohl erfüllt der Chor seine Aufgaben bravourös, in jedem Moment fein abgestimmt im Gesamtklang und virtuos beweglich nicht nur in der Schlussfuge. Ausgefeilt bis ins Detail ist dabei der Umgang mit der (für ein spanisches Ensemble nicht unbedingt gewohnten) deutschen Sprache.
Matthias Winckhler ist ein liedhaft schlanker, gleichwohl baritonal volltönender Erzengel Raphael und (im dritten Teil des Werkes) liebevoller Adam mit erzählerischem, nie opernhaftem Grundton. Mingjie Lei singt mit gedecktem, über alle Register homogenem Tenor den Erzengel Uriel. Dass ihm die tenoral glanzvollen, auftrumpfenden Töne fehlen, entspricht dem Gesamtkonzept. Unbefangen leuchtendes Jubeln über die Wunder der Schöpfung ist Giulia Bolcato als Erzengel Gabriel mit glockenhaft tönendem Sopran vorbehalten. Die Eva ist, durchaus ungewöhnlich, mit einer zweiten Sopranistin besetzt (was das Problem umgeht, dass im Schlusschor plötzlich eine vierte, bis dahin nicht benötigte Solostimme einkomponiert ist). Flore van Meerssche singt mit unschuldig mädchenhaftem, in der Höhe aber wunderbar strahlendem Sopran.
Die in sich schlüssige, sehr schöne Aufführung zeichnet vor dem erwähnten kurzen Schreckensmoment der Todes- und Endlichkeitswarnung ein harmonisches Weltbild, das in einer vielerorts von Krieg und Flucht gezeichneten Gegenwart unverändert als humanistische Utopie gesehen werden darf. Vielleicht nicht in jeder Konsequenz: Hatte man sich gerade erst das Licht der Aufklärung gesonnt, so verweist Evas bereitwillige Unterwürfigkeit gegenüber dem Mann ("Dein Will' ist mir Gesetz. So hat's der Herr bestimmt, und dir gehorchen bringt mir Freude, Glück und Ruhm.") eben auch unfreiwillig auf die Restauration, die mit dem Wiener Kongress 1815, den Haydn nicht mehr erlebte, folgen sollte. Und am bedenklich breit gewordenen rechten Rand der westlichen Gesellschaften werden solche Phrasen leider auch heute noch allzu gerne gehört. So unpolitisch naiv sie sich auch gibt, ist Haydns Schöpfung eben doch nicht.
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