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Musik, die Grenzen überschreitetVon Christoph Wurzel / Fotos: © Fabian Schellhorn (Berliner Festspiele) Noch vielfältiger sind vielleicht nur die London Proms. Aber hierzulande wird sich wohl bei kaum einem anderen Musikfestival als dem Musikfest Berlin zwischen italienischen Renaissance-Madrigalen, Sinfonien der Spätromantik und reichhaltig Gegenwartsmusik ein solches Programm finden wie dieses des diesjährigen Eröffnungskonzerts. Im Repertoire der Konzerte sind wir mit dem Pluralismus der musikalischen Nationalkulturen zwischen Norwegen und Italien, Frankreich und Russland vertraut, unverkennbar dabei ist jedoch, wie eurozentristisch unser Musikbetrieb orientiert ist. Über die europäischen Grenzen hinaus reichen die Programme selten. Das Musikfest Berlin weitet den Blick mit seinem Angebot der diesjährigen Ausgabe über den Atlantik aus: mit dem Stichwort "Amériques" in Richtung beider Amerikas. Thierry Fischer, Chefdirigent des São Paulo Symphony Orchestra beim diesjährigen Musikfest Berlin in der Philharmonie Entlehnt ist dieses Motto vom Titel des gewaltigen Orchesterstücks Edgar Varèses, eines Komponisten der in Leben und Werk Grenzüberschreitungen in mehrfacher Hinsicht verkörpert. Als gebürtiger Franzose suchte er seit 1915 in New York lebend mit Amériques den Klangraum Nord- und Südamerikas mit der musikalischen Tradition Europas zu einer neuen Avantgarde zu verbinden. Kaum hätte ein Orchester für dieses Programm berufener sein können als das staatliche São Paulo Symphony Orchestra unter der Leitung seines Schweizer Chefdirigenten Thierry Fischer. Es hatte ausschließlich Musik aus Nord- und Südamerika mitgebracht. Mit Amériques (entstanden 1918-22) endete dieses faszinierende Konzert, begonnen hatte es mit der Orchesterskizze Central Park in the Dark (1906-09) von Charles Ives, einem ebenso wie Varèse singulären Musikerfinder. Völlig vorbild- und traditionslos schuf Ives eine eigene musikalische Welt, die sich ebenfalls nicht an vorgegebene Regeln gebunden fühlt. In diesem Stück überschreitet er die Grenzen der Wahrnehmung zwischen Nähe und Weite, Ruhe und Bewegung. Hinter einem dissonanten, rhythmisch nahezu ebenso unbeweglichen wie undefinierten Vorhang aus permanenten Streicherklängen im pianissimo macht sich gleichsam im Hintergrund nach und nach die anschwellende Kulisse einer ziemlich unkoordiniert lärmenden Jazzband bemerkbar. Ebenso unvermittelt wie sie gekommen ist, verschwindet sie, der Vorhang schließt sich wieder und die kurze Melodie der einsam singenden Solovioline scheint dem nächtlichen Klanggeschehen nachzuspüren: A Contemplation of Nothing Serious, wie Ives seine Komposition im Untertitel nannte. Eindringlich in der Aussage und hochsensibel im Klang realisierte das Orchester diese kurze Klangimpression. Roman Simovic und das São Paulo Symphony Orchestra in Berlin Der Argentinier Alberto Ginastera (1916- 1983) war ebenfalls ein Grenzen überschreitender Komponist. Im kosmopolitischen Buenos Aires der 1940ger Jahre lernte er die europäische Avantgarde kennen, nahm aber ebenso die Volksmusik seines Heimatlandes auf. Sein Violinkonzert op. 30 von 1963 (klanglich von Alban Berg und Béla Bartók beeinflusst) geht formal ganz eigene Wege. Eine ausgedehnte Kadenz der Sologeige eröffnet das Konzert mit kompromisslos harten, aggressiv vibrierenden Doppelklängen in großen Sprüngen mit wahnwitzigen Spieltechniken. Fast hegte man hier mehr Bewunderung für die Saitenakrobatik des Abendsolisten, des ukrainischen Geigers Roman Simovic, als für Klang und Struktur dieser Musik, deren Expressivität und emotionale Extreme Simovic höchst eindrucksvoll zu vermitteln verstand. Eine Reihe von Etüden (Studien nennt sie der Komponist) steht an Stelle der klassischen Durchführung, Durchgänge in Terzen, Intervallen, Arpeggien, Harmonien usw. zwischen Orchester und Solist. Im zweiten Satz, vom Komponisten mit Adagio per 22 solisti überschrieben, treten alle Instrumente gleichsam solipsistisch auf, selbstbezogen, individualistisch. Erst im Lauf des Satzes scheinen Orchester und Solist zusammenzufinden, was im dritten Satz aber zu einer wilden Jagd führt. Zuerst eröffnen die drohenden Pauken ein düsteres Scherzo, bevor sich für die Sologeige in einem Rausch schneller 16tel-Läufe ein Perpetuum mobile in Gang setzt, das sie nach einem ironischen Paganini-Zitat unter der Führung des 40 Instrumente umfassenden Schlagwerks zum erlösenden Ende hetzt. Natürlich ein Bravourstück für den Geiger und das Orchester gleichermaßen. Riesenbeifall gab es sogar zwischen den Sätzen für diese grandiose Leistung. So hört sich wohl der Dschungel an, wie Heitor Villa-Lobos ihn in seinem Ballett Uirapurú zum Klingen bringt. Lange vor dem komponierenden Ornithologen Olivier Messiaen entstand diese Komposition, in der es von Vogelstimmen wimmelt, die ungemein eindrucksvoll neben anderen Urwaldgeräuschen das exotische Klangbild dieser Komposition erzeugen. Inspiriert von Strawinskys Feuervogel steht hier ebenfalls ein Zaubervogel im Mittelpunkt (übrigens eine real existierende seltene Art), welcher der Mythologie nach seine Gestalt zwischen Tier und Mensch wechseln kann und dessen Gesang Glück bringen soll, wer ihn hört. Die Holzbläser mit dem Sopransaxophon, eine reiche Schlagwerkpalette auch indigener Instrumente wie Coco, Reco-reco oder Chimes und das seltene Violonophon (eine Violine mit einem Schalltrichter wie ein Grammophon) schaffen die Klangkoloristik eines gleichsam singenden Regenwaldes. In Kombination dieser exotischen Klangquellen mit dem konventionell gewohnten Instrumentarium war durch das staatliche Sinfonieorchester von São Paulo eine überaus reizvolle, mit Sicherheit authentische Interpretation gelungen. Hat die Berliner Philharmonie mit Klang gefüllt: das São Paulo Symphony Orchestra beim diesjährigen Musikfest Maßlos ist Edgar Varèses Komposition Amériques in Dimension und Klang. 1926 noch von 140 Musikerinnen und Musikern unter der Leitung von Leopold Stockowski uraufgeführt, reduzierte der Komponist sein Werk später auf 120 Mitwirkende, was die schiere Überflutung von Klangreizen nur unwesentlich mildert. Gut 20 Minuten lang ergießt sich eine anscheinend strukturlose Klang- und Geräuschkaskade über das Publikum, durchsetzt von Melodiefetzen, Straßengeräuschen, einer heulenden Schiffssirene und dem wilden Getrommel von rund 40 Schlaginstrumenten, die von 9 Spielerinnen und Spielern bedient werden. Dies ist Musik, die man auch sehen muss und die im Riesenrund der Berliner Philharmonie erst richtig zur Geltung kommt. Atemlos setzt man sich dem zwischen ruhigeren und explosiven Klängen mäanderndem kunstvoll arrangierten Lärm aus, der gleichwohl höchste Präzision und differenzierte Klangerzeugung verlangt. Eine großartige Leistung der Künstler an den Instrumenten, vom Dirigenten exakt geschlagen und (vielleicht ein wenig zu sehr) kontrolliert in Form gebracht. Das Chaos, das diese Musik evoziert, jedenfalls wäre noch provozierender vorstellbar. Für Varèse selbst war später die Klangerzeugung konventioneller Instrumente nicht mehr genug. Er wurde zu einem Mitbegründer der elektronischen Musik. Zurück zur Lust am ursprünglichen Musizieren führten Dirigent und Orchester in ihrer Zugabe - einem brasilianischen Tanz voll Energie und Lebensfreude. Sein Komponist mit dem klangvollen Namen Mozart Camargo Guarnieri (1907-93) ist in Brasilien wohlbekannt und hochgeschätzt. Doch bei uns harrt er noch der Entdeckung, wie überhaupt viel zu viel von der Musik aus diesem Kontinent.
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Das ProgrammCharles Ives Alberto Ginastera Heitor Villa-Lobos Edgar Varèse Zugabe Solist:
Zugabe Orchester:
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