Veranstaltungen & Kritiken Musikfestspiele |
|
|
Endzeitstimmung in gewaltiger BilderflutVon Thomas Molke, Fotos: © Bayreuther Festspiele / Enrico NawrathDie Parsifal-Inszenierung von Jay Scheib geht in dieser Spielzeit ins zweite Jahr, und immer noch kommen rund 330 Zuschauerinnen und Zuschauer bei jeder Aufführung in einen anderen Genuss als der Rest des Publikums. Grund dafür ist der Einsatz von AR-Brillen, die dem Geschehen auf der Bühne eine weitere Ebene über eine "augmented Reality" hinzufügen. Dass die Anzahl der mit Brillen ausgestatteten Plätze nicht erhöht worden ist, mag finanzielle Gründe haben. Immerhin kostet eine Brille 1000 US-Dollar. Das lässt sich wohl auch nicht mit höheren Eintrittspreisen für die "Brillen-Tickets" finanzieren. Des Weiteren ist in der besuchten Vorstellung zu beobachten, dass viele Zuschauerinnen und Zuschauer die zur Verfügung gestellte Brille nur zum Teil nutzen und sich größtenteils doch auf die altbekannten Sehgewohnheiten verlassen, obwohl der Service um die Brillen im Festspielhaus wirklich hervorragend funktioniert. Neben einer persönlichen Anpassung am Vormittag gibt es auch ab 15.30 Uhr eine Einführung in die Nutzung, bei der freundliche Helferinnen und Helfer mit Rat und Tat zur Seite stehen. Gurnemanz (Georg Zeppenfeld, links) und Kundry (Ekaterina Gubanova) treffen auf Parsifal (Andreas Schager) (im Hintergrund: Kundry 2). Aber die Frage bleibt, ob das, was durch die Brille zu sehen ist, den Aufwand wert ist und damit den Weg in die Zukunft des Theaters weist, so dass demnächst auf aufwändige Bühnenbilder vollständig verzichtet werden kann. Natürlich lässt sich das für die Bayreuther Aufführung nicht eindeutig beantworten, da Scheibs Inszenierung ja auch den Teil des Publikums abholen soll, der die zusätzlichen Bilder nicht sehen kann. Was will Scheib mit seiner Lesart des Parsifal erzählen? Er sieht in der Gralsgesellschaft eine vom Aussterben bedrohte Bevölkerung, die die natürlichen Ressourcen der Erde größtenteils ausgebeutet hat und nun um ihr Überleben kämpft. Der "Gral" sind für ihn Mineralien wie Kobalt und Lithium, die zwar auf die unmenschlichste Weise aus der Erde geholt werden, ohne die jedoch unsere hoch technologisierte und digitale Welt heute nicht mehr funktionieren würde. Man kennt die Missstände, hat aber keine andere Wahl, so wie die Gralsritter, die den an der Wunde leidenden Amfortas immer wieder unter größten Qualen zur Enthüllung des Grals drängen. Amfortas (Derek Welton, vorne links mit den vier Knappen (von links nach rechts: Betsy Horne, Margaret Plummer, Jorge Rodríguez-Norton und Matthew Newlin) und Titurel (Tobias Kehrer, Mitte liegend)) enthüllt den Gral (auf der rechten Seite: Gurnemanz (Georg Zeppenfeld), Parsifal (Andreas Schager) und die beiden Gralsritter (Jens-Erik Aasbø und Siyabonga Maqungo), dahinter: Festspielchor). Mimi Liens Bühnenbild vermittelt eine Endzeitstimmung. Hinter einem kleinen Wasserreservoir sieht man ein Loch, das wohl eine Mine darstellen soll, in der Kobalt abgebaut wird. Aus dieser Mine entsteigen im ersten Aufzug die Gralsritter, die sich in den hellen Kostümen von Meentje Nielsen wie ein Chamäleon ihrer Umwelt angepasst haben. Auf der linken Seite sieht man noch einen Baumstumpf, der für die abgestorbene Natur steht, die dem Abbau zum Opfer gefallen ist. Im dritten Akt scheint das kreisrunde Loch in der Mitte der Bühne mittlerweile vollständig abgebaut worden zu sein und ist mit Wasser geflutet. Auf der rechten Seite sieht man eine Maschine, die nicht mehr intakt ist. Der Gral, der im ersten und dritten Aufzug enthüllt wird, ist ein riesiger blauer Stein, der wohl Kobalt darstellen soll. Wieso die Gralsritter für die Enthüllung des Grals auch klassische Requisiten tragen, die aus einer eher traditionellen Inszenierung stammen könnten, erschließt sich nicht wirklich. Vielleicht steht dieser Ansatz für den Wandel der Generationen. Am Ende enthüllt Parsifal nicht nur den Gral, nachdem er mit dem Speer Amfortas' Wunde geschlossen hat und den Speer an Titurels Leiche, die in einem schwarzen Sack auf die Bühne getragen worden ist, abgelegt hat, sondern zerstört ihn auch gleichzeitig. Gemeinsam mit Kundry, die bei Scheib nach der Taufe nicht entseelt zusammenbricht, geht er einer ungewissen Zukunft entgegen. Ob er wirklich der Erlöser ist, wie ein leuchtender Kranz, der über den beiden schwebt, andeutet, versieht die Inszenierung mit einem großen Fragezeichen. Auf der Rückseite seines T-Shirts steht "Remember Me" - wohl in Erinnerung an seine Mutter Herzeleide -, während auf Kundrys Rücken "Forget Me" zu lesen ist. Der Hase als Beispiel für die "augmented Reality" (© Jay Scheib) Das ist trotz aller Abstraktion schon recht bildgewaltig. Was hat da die "augmented Reality" noch zu ergänzen? Zu Beginn des Vorspiels zum ersten Akt sieht man, noch bevor sich der Vorhang öffnet, eine Vielzahl von kleinen Lichtern durch den Raum schwirren, was wunderbar mit der ätherischen Musik aus dem Orchestergraben korrespondiert. Die kleinen Lichter verwandeln sich in abgestorbene weiße Bäume und Äste, die schwerelos durch die Luft fliegen, was die Endzeitstimmung der Inszenierung unterstreicht, das anschließende Geschehen auf der Bühne allerdings ein wenig überdeckt, zumal man sowieso das Gefühl hat, wie durch eine Sonnenbrille zu schauen, da die Brille die Bühne ein wenig verdunkelt. Im Folgenden sieht man zahlreiche Tiere, einen Fuchs, einen Hasen und zwei Lämmer, durch das Bühnenbild laufen, die neugierig das Geschehen beobachten. Auch der Schwan darf hier natürlich nicht fehlen, den Parsifal mit dem Pfeil vom Himmel holt. Interessant ist auch, dass die Bühne nach den Seiten durch die Brille vergrößert wird. Wenn man nach unten schaut, sieht man einen kargen Boden, auf dem sich auch das eine oder andere ereignet. An den Seiten wachsen teilweise riesige kahle Bäume. Auch Avatare laufen durch das Bild. Wenn Parsifal von Gurnemanz vertrieben worden ist, scheint er es wohl selbst zu sein, der mit großen Schwanenflügeln den Wald durchstreift. Ob die Avatare allerdings nach der Enthüllung des Grals im ersten Aufzug wild kopulieren müssen, ist diskutabel. Klingsor (Jordan Shanahan, links liegend) ist besiegt (Mitte: Kundry (Ekaterina Gubanova), rechts: Parsifal (Andreas Schager) mit den Blumenmädchen). Beeindruckend ergänzt die "augmented Reality" die Zauberwelt Klingsors zu Beginn des zweiten Aktes. Klingsor scheint in einer Art Felsspalte in seiner Burg zu stehen, die von Außenstehenden nicht zu erreichen ist. Unterhalb der Bühne sieht man einen breiten roten Fluss, der wohl das Blut der gefallenen Krieger darstellt und Klingsors Reich umgibt. Im Anschluss an dieses wunderbare Bild wirken die zusätzlichen Impressionen allerdings als absolute Überfrachtung und überdecken das Geschehen auf der Bühne teilweise völlig. Da muss man schon häufig unter der Brille hervorschauen, um sehen zu können, was eigentlich genau auf der Bühne passiert. Und da passiert mit den bunt kostümierten Blumenmädchen und Kundry, die sich von einer farblosen Gestalt in Schwarz und Weiß in eine mondäne Frau verwandelt, um Parsifal zu verführen, einiges. Auf die zwei Schlangen, von denen sich eine über die Bühne schlängelt und die andere sich in Form eines Rings selbst aufzufressen scheint, kann man gerne verzichten. Interessant wird Klingsors Kampf mit Parsifal in Szene gesetzt. Hier ist es Kundry, die Klingsors Speer abfängt bzw. ablenkt und damit Parsifal den Sieg beschert. Wer die Gestalt im Hintergrund ist, die am Ende des zweiten Aufzugs an einem Seil aus dem Schnürboden herabgelassen wird, wird nicht ganz klar. Betrachtet man das rosafarbene Kostüm, müsste es sich um Klingsor handeln, der aber bereits tot vorne auf der Bühne liegt. Wird er von der Regie ebenfalls gedoppelt wie Kundry, die auch in Gestalt einer Statistin zweimal auftritt? Bei Scheib hat sie nicht nur Amfortas verführt, sondern hat zu Beginn des Vorspiels auch noch eine leidenschaftliche Affäre mit Gurnemanz. Die zweite Kundry schmiegt sich am Ende dann auch an Gurnemanz an, während Kundry 1 mit Parsifal im See steht. Bildtechnisch hat die "augmented Reality" im dritten Akt nicht mehr viel zu ergänzen. Gezeigt wird hier jede Menge Elektroschrott, der sich ebenfalls zu einem Problem für die Menschheit entwickelt. Da hat man schon Mitleid mit dem armen kleinen Fuchs, dem Plastiktüten, Batterien, Autos, Monitore etc. um die Ohren fliegen. Am Ende keimt aber doch ein Funken Hoffnung auf, wenn man wieder frische Blumen sieht, zwischen denen zwei Lämmer fröhlich umherspringen. Im Schlussbild erblickt man eine riesige leuchtende Taube auf den Saal zufliegen, was nach den ganzen düsteren Eindrücken ebenfalls sehr versöhnlich wirkt. Können Parsifal (Andreas Schager) und Kundry (Ekaterina Gubanova) eine bessere Zukunft bringen? Musikalisch hat sich die Besetzung im Vergleich zum vergangenen Jahr nicht geändert. Nur Andreas Schager musste in der dritten Aufführung am 7. August von Tilmann Unger (1. Aufzug) und Klaus Florian Vogt (2. und 3. Aufzug) ersetzt werden. Elīna Garanča, die im vergangenen Jahr als Kundry ihr Bayreuth-Debüt gegeben hat, ist in diesem Jahr nicht zu erleben. In diesem Jahr werden alle Vorstellungen von Ekaterina Gubanova bestritten. Gubanova begeistert als Kundry nicht nur stimmlich mit großer Dramatik in ihrer Erzählung im zweiten Aufzug und gestaltet die Bitterkeit dieser durch die Jahrhunderte getriebenen Frau, die sich nach der Erlösung im Tod sehnt, sehr nuanciert. Auch darstellerisch punktet sie mit großartigem Ausdruck, was in den zahlreichen Nahaufnahmen der Videoprojektionen deutlich wird. So nimmt man ihr die Liebesszene mit Amfortas im Vorspiel des ersten Aufzuges genauso ab wie den leidenschaftlichen Kuss Parsifals in ihrer Verführungsszene im zweiten Aufzug. Schager legt die Titelpartie mit einem strahlenden, großformatigen Heldentenor an, der absolut frisch wirkt und auch stimmlich eine großartige Entwicklung vom unbedarften jungen Mann zum abgeklärten neuen Herrscher der Gralsgesellschaft vollzieht. Georg Zeppenfelds glasklare Diktion ist ein Pluspunkt für die Partie des Gurnemanz, die man bei den zahlreichen langen Erzählungen gar nicht hoch genug loben kann. Mit seiner differenzierten Interpretation gelingt es ihm, auch die etwas langatmigen Stellen zu einem musikalischen Erlebnis zu machen. Derek Welton begeistert als Amfortas mit lyrisch grundiertem Bassbariton, der sauber jede Phrase aussingt und die Qualen dieses Mannes absolut spürbar macht. Tobias Kehrer gibt den Titurel mit profundem Bass absolut autoritär und unnachgiebig und zeigt darstellerisch, dass er nicht bereit ist, das Zögern seines Sohnes zur Enthüllung des Grals zu akzeptieren. Während er zu Beginn als alter Mann mit langem weißem Haar sich schwerfällig auf die Bühne schleppt, erlebt er anschließend eine regelrechte Verjüngung und schreitet gestärkt mit kurzen Haaren von der Bühne, stützt dabei sogar noch seinen geschwächten Sohn Amfortas. Auch Jordan Shanahan lässt als Klingsor keine Wünsche offen und punktet mit kraftvollem, rauem Bariton, der seine Macht über Kundry zu Beginn des zweiten Aufzugs deutlich macht, am Ende aber dann doch nicht zuletzt durch ihren Einsatz sein Ziel nicht erreichen kann. Die Gralsritter, Knappen und Blumenmädchen ergänzen das Ensemble auf hohem Niveau. Gleiches gilt auch für den von Eberhard Friedrich einstudierten Festspielchor. Das Festspielorchester zaubert unter der Leitung von Pablo Heras-Casado aus dem Orchestergraben einen sanft fließenden Klang von melancholischer Eleganz, der alles Pathetische, Schwere ablegt, ohne dabei an dramatischer Kraft zu verlieren. Zu Recht werden alle Beteiligten mit großem Applaus bedacht.
Die "augmented Reality" liefert stellenweise sehr beeindruckende optische Ergänzungen, die die Spannung jedoch nicht über die ganze Dauer der Aufführung halten können. Wer allerdings bei den eher handlungsarmen langen Passagen des ersten und dritten Aufzugs ein wenig Abwechslung sucht, kommt hierbei voll auf seine Kosten.
|
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie
Bühne
Kostüme
AR-Design und Video
Licht
Chorleitung
Dramaturgie
Festspielchor Solistinnen und Solisten*rezensierte Aufführung
Amfortas
Titurel
Gurnemanz
Parsifal
Klingsor
Kundry
1. Gralsritter
2. Gralsritter
1. Knappe
2. Knappe
3. Knappe
4. Knappe
Klingsors Zaubermädchen
Eine Altstimme
|
- Fine -