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Fiedler auf der MilchkanneVon Thomas Molke / Fotos von Lutz EdelhoffDas war ein Bangen bei den DomStufen-Festspielen in Erfurt. Am Premierennachmittag goss es noch in Strömen. Zwar sitzt bei den Aufführungen das Philharmonische Orchester Erfurt im Trockenen und wird live aus dem Theater auf die Domstufen übertragen. Aber man sorgte sich natürlich um das Ensemble, das bei den Tanzchoreographien und dem Spiel nicht auf glitschigen Domstufen ausrutschen soll, und das Publikum, das sich sicherlich Angenehmeres vorstellen kann, als einer Open-Air-Veranstaltung bei strömendem Regen beizuwohnen. Doch an diesem Tag konnte man sich auf die Wetterprognose verlassen. Ab 18.00 Uhr war es trocken und warm, so dass die DomStufen-Festspiele fast wie geplant beginnen konnten. Auch das Problem mit zwei defekten Sitzen auf der nahezu ausverkauften Domplatte konnte kurz vor Vorstellungsbeginn noch gelöst werden, so dass die Premiere mit kleiner Zeitverzögerung beginnen konnte. Auf dem Spielplan steht in diesem Jahr das Musical Anatevka. "Wenn ich einmal reich wär": Milchmann Tevje (KS. Máté Sólyom-Nagy) Bei der Uraufführung am 22. September 1964 hatten der Komponist Jerry Bock und der Textdichter Joseph Stein wohl selbst nicht mit dem überwältigenden Erfolg gerechnet, da die literarische Vorlage von Scholem Alejchem mit dem Antisemitismus und der Vertreibung der russischen Juden im beginnenden 20. Jahrhundert ein für das Musical der 1960er Jahr absolut untypisches Thema zum Inhalt hatte. Dennoch war es wohl gerade der ungewöhnliche musikalische Mix aus jüdischer Folklore mit Klezmer und eingängigen Melodien wie dem berühmten "Wenn ich einmal reich wär" auf der einen Seite und die liebevolle Zeichnung der Charaktere auf der anderen Seite, die dem Musical zu der damals längsten Laufzeit am Broadway verhalfen und dazu führten, dass es auch heute noch zu den meistgespielten Werken dieser Gattung zählt, zumal es gerade jetzt mit dem erneut ansteigenden Antisemitismus und dem russischen Angriffskrieg wieder eine erschreckende Aktualität besitzt. Abschied von Anatevka: vorne Mitte: Tevje (hier: Rainer Zaun, links) mit Mottel (Bosse Vogt, rechts) und Ensemble Aber das Regie-Team um Ulrich Wiggers verzichtet darauf, diese Aktualität in der Inszenierung plakativ zur Schau zu stellen und hält sich, was die Kostüme von Julia Reindell, die Requisiten und die Personenregie betrifft, an einen recht klassischen Zugang zu dem Werk. Für das Bühnenbild von Leif-Erik Heine werden die Möglichkeiten, die die Domstufen als Spielstätte bieten, voll ausgenutzt. Im Hintergrund befindet sich eine riesige umgekippte Milchkanne, die die Milch über die Domstufen verschüttet hat. Ein Loch in der Milchkanne deutet an, dass der Sturz der Kanne wohl nicht einem Unfall, sondern einer Gewehrkugel geschuldet ist, was die Gewalt, die die Juden zu nahezu jeder Zeit erfahren haben, zeigt. Auch riesige Holz- und Glassplitter auf den weiteren Stufen erinnern an die von zahlreichen Auf- und Abbrüchen geprägte Geschichte der Juden. Vor der Bühne befinden sich riesige Grabstein-Fragmente mit hebräischen Inschriften, über die sich die verschüttete Milch ebenfalls ergießt. In diesem recht fragilen Ambiente entspinnt sich die Geschichte, die mit einem Lobgesang auf die Tradition beginnt, die im Verlauf des Stückes immer mehr zu bröckeln beginnt. Chava (Gioia Heid, links), Zeitel (Daniela Gerstenmayer, Mitte) und Hodel (Hannah Miele, rechts) träumen von einem Mann. Tevjes Wohnstube öffnet sich auf der linken Bühnenseite, wenn ein Holzelement gedreht wird. Das Bett, in dem Tevje den spektakulären Traum erfindet, um seine Frau Golde zu überzeugen, wieso die älteste Tochter nicht wie mit der Heiratsvermittlerin Jente abgemacht den alten Fleischer Lazar Wolf, sondern den mittellosen Schneider Mottel heiraten muss, kommt aus dem vorderen Teil der Bühne gefahren und wird mit eindrucksvollen Videoprojektionen und großartigen Masken, die Werken des deutsch-israelischen Malers und Graphikers Jakob Steinhard nachempfunden sind, zu einem regelrechten Spektakel. Auch für die Vertreibung der Juden aus Anatevka findet Bonko Karadjov ein beeindruckendes Videodesign. Auf die Stufen und eine benachbarte Häuserwand wird das Bild eines Dorfes projiziert. Bei den grellen Lichtern lässt sich nicht ausmachen, ob es sich bloß um erleuchtete Fensterscheiben handelt oder ob diese Häuser bereits brennen. Wenn Tevje seinen Karren schließlich mit anderen Dorfbewohnern die Treppe hochträgt und die Bewohner Anatevkas in der riesigen Milchkanne verschwinden, wird das Dorf in der Projektion von einer schwarz fließenden Flüssigkeit dem Erdboden gleichgemacht. Am Ende sieht man nur noch den Fiedler auf dem Dach, der zu Beginn der Inszenierung noch auf der Milchkanne gestanden und gespielt hat. Scheinbare Annäherung beim Tanz: Fedja (Hector Mitchell-Turner, vorne rechts) und Ensemble Neben der unter die Haut gehenden Inszenierung lässt auch das absolut spielfreudige Ensemble keine Wünsche offen. Direkt die Eröffnungsszene wird von Kathi Heidebrecht großartig choreographiert. Die Solistinnen und Solisten, der Opernchor des Theaters und die Mitglieder des Philharmonischen Chores Erfurt begeistern beim Song "Tradition" als Väter, Mütter, Söhne und Töchter mit wunderbar aufeinander abgestimmten Bewegungen. Auch die Tanzszene in der Gastwirtschaft, bei der man einen Moment das Gefühl hat, dass die Musik und der Tanz die beiden unterschiedlichen Kulturen der Juden und Russen verbindet, wird großartig vom Ensemble umgesetzt. Wie eng Lachen und Weinen in diesem Stück beieinander liegen, wird in der Hochzeitsszene deutlich, in der die ausgelassene Feier von den auftretenden uniformierten Russen gestört wird, was das Publikum wohl derart bewegt, dass die Darsteller der Russen neben dem allgemeinen Applaus auch einige Buhrufe erhalten, die aber wohl eher als Lob für das überzeugende unsympathische Spiel gewertet werden können. Tevje (Máté Sólyom-Nagy) erzählt Golde (Brigitte Oelke) seinen Traum. Die Partie des Milchmanns Tevje ist eine Paraderolle für KS. Máté Sólyom-Nagy. Mit wunderbarem Spielwitz setzt Sólyom-Nagy die Bauernschläue dieser durch und durch sympathischen Figur um und zeigt, wie er einerseits an der Tradition, von der er überzeugt ist, festhalten will, andererseits sich den neuen Strömungen, die seine Töchter in sein Leben bringen, nicht widersetzen kann. So ebnet er zunächst seiner ältesten Tochter Zeitel den Weg, den von ihr geliebten mittellosen Schneider Mottel zu bekommen, und zieht sich dafür den Unmut des wohlhabenden Metzgers zu. Auch bei Hodel ist er schließlich bereit zu akzeptieren, dass sie ihn für ihre Verbindung mit dem aufrührerischen Studenten Perchik nicht mehr um Erlaubnis fragt, sondern nur um seinen Segen bittet. So lässt er sie schließlich schweren Herzens ihrem Geliebten nach Sibirien folgen. Nur Chavas Verbindung mit dem Russen Fedja geht ihm zu weit. Bewegend stellt Sólyom-Nagy den inneren Kampf Tevjes dar, der hier wirklich mit sich und der Welt hadert, ob er auch die Entscheidung seiner dritten Tochter billigen soll. Immerhin ringt er sich beim letzten Abschied dazu durch, ihr Gottes Segen zu wünschen. Brigitte Oelke ist ihm als Golde eine in jeder Beziehung adäquate Partnerin. Mit forschem Spiel macht sie deutlich, dass sie es eigentlich ist, die das Sagen im Haus hat und genau weiß, wie sie mit Tevje umzugehen hat, damit er sich trotzdem noch als "Mann im Haus" fühlen kann. Unter die Haut geht das Duett der beiden "Ist es Liebe". Wie barsch Oelke zunächst die Frage ihres Mannes zurückweist, um ihm schließlich doch noch zu gestehen, dass es wohl Liebe sein muss, was die beiden seit 25 Jahren verbindet, wird von Oelke und Sólyom-Nagy bewegend umgesetzt. Daniela Gerstenmayer, Hannah Miele und Gioia Heid setzen die Partien der drei Töchter Zeitel, Hodel und Chava ebenfalls durch intensives Spiel um und zeigen in einer gewissen Steigerung, wie sie ihren Vater immer mehr von der geliebten Tradition abrücken lassen. Bosse Vogt ist ein liebevoll unsicherer Schneider Mottel, der an Größe gewinnt, nachdem er den Mut aufgebracht hat, bei Tevje um Zeitels Hand anzuhalten. Denis Riffel gibt den jungen Studenten Perchik absolut kämpferisch und gewinnt gerade dadurch Hodels Herz. Von den übrigen Partien soll noch Gudrun Schade erwähnt werden, die als Jente großartigen Spielwitz entfacht und in der Alptraumsequenz in die Rollen von Goldes Großmutter und Fruma-Sara schlüpft. Clemens Fieguth liefert mit dem Philharmonischen Orchester Erfurt aus dem Theater einen perfekten Klang und wird zum Schlussapplaus mit dem Auto aus dem Theater vorgefahren. So gibt es zu Recht stehende Ovationen für alle Beteiligten.
FAZIT Die Geschichte des Milchmanns Tevje rührt in der Inszenierung von Ulrich Wiggers zu Tränen und wird vom Ensemble auf den Domstufen großartig umgesetzt. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung Bühnenbild Kostüme Videodesign
Choreographie Choreinstudierung
Dramaturgie
Opernchor des Theaters Erfurt Mitglieder
des Kinderstatisterie des Theaters Erfurt Solistinnen und Solisten
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