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Frescobaldi und Bach treffen Luciano Berio auf dem Dance Floor
Von Stefan Schmöe
Passt die Musik Johann Sebastian Bachs in die Techno-Clubszene? Wenn man den Pianisten Francesco Tristano in seiner glasklaren, nüchtern-präzisen und auf jede Romantisierung verzichtende Interpretation des Prélude aus der Englischen Suite Nr. 3 g-Moll BWV 808 hört, der Flügel elektronisch verstärkt wird und sich im Klangbild dadurch rein elektronisch produzierten Beats annähert, dann muss man konstatieren: ja, warum eigentlich nicht? Tristano, 1981 in Luxemburg geboren, eröffnet mit seinem Programm Oscillate die neue (in diesem Jahr auf vier Abende angelegte) Reihe Klavier & Elektronik des Klavier-Festivals Ruhr, dessen neue Intendantin Karin Zagrosek damit einen markanten Akzent setzt. Der Künstler spricht nicht mehr von einem "Konzert", sondern von seiner "Show", zu der auch eine ausgefeilte Lichtgestaltung gehört. Und die ausgewählte Musik, so der Künstler, oszilliere zwischen alten Meistern des Klaviers und neuen Kompositionen, und er erinnert vorsorglich auch daran, dass Musik und Töne ohnehin aus Oszillationen, also Schwingungen, bestünden. Nun ja, am Tiefsinn solcher Konzerttitel lässt sich ja vielleicht noch arbeiten. Wobei es ja gar nicht so sehr um Tiefsinn geht wie um Unterhaltung - was wiederum ja nicht zwingend ein Gegensatz sein sollte.
Francesco Tristano (Foto: Klavier-Festival Ruhr/Peter Wieler)
Der gute, alte Bach findet sich erst einmal im einigermaßen vertrauten, wenn auch katholischen kirchlichen Umfeld wieder, wobei die zwischen 1927 und 1929 erbaute Heilig-Kreuz-Kirche in Gelsenkirchen 2007 endwidmet und zum Kulturzentrum umgebaut wurde. Charakteristisches Merkmal des eigenwilligen, massigen Stahlbeton-Baus mit Backsteinfassade sind die parabelförmigen Bögen, die bereits vor Konzertbeginn in dichten Bühnennebel gehüllt sind. Tristano sitzt wechselnd in einem Lichtkegel, der von schräg oben einfällt, oder wird von einem Ring aus von unten aufsteigenden Lichtsäulen umgeben. Dazu kommen Stroboskop-Effekte und ein paar Lichtbänder aus Diodenmatrizen, auf denen Lichtsignale von rechts nach links oder umgekehrt verlaufen. Sagen wir mal so: Eine Band wie Rammstein spielt da beleuchtungstechnisch in einer anderen Liga. Aber die Atmosphäre in der Heilig-Kreuz-Kirche ist eben eine ganz andere als bei Klavierabenden im gediegenen Musikforum in Bochum oder der Historischen Stadthalle Wuppertal mit ihrem Neorenaissance-Flair.
Tristano beginnt mit den eigenen Kompositionen Introit und Hello, die Elemente der minimal music wie die dauerhafte Wiederholung formelhafter kurzer Motive mit der Lässigkeit von Club-Musik mischen. Eine gewisse Vorliebe für viertaktige Perioden geben ein Gefühl von rhythmischer Sicherheit und lassen den Dance Floor assoziieren. Die Elektronik steuert Geräusche wie Beats bei. Tristano geht nahtlos zu drei Toccaten von Girolamo Frescobaldi über, die er in den langsamen Teilen zögernd und suchend angeht, in den schnellen Passagen wie bei Bach die Verbindung zum Techno andeutet. Seine Art der Interpretation macht dabei durchaus Lust auf einen reinen Barock-Abend ohne Elektronik und Lichtshow. Problematischer ist Luciano Berios Sequenza IV, eine komplexe Komposition, bei der die ablenkende Lichtshow das Musikerlebnis mehr stört als fördert. Gravity von Matteo Francheschini (*1979) dagegen passt genau in dieses Programm und klingt wie eine Vergrößerung der Kompositionen Tristanos, ein Stück gewichtiger und eigenwilliger.
Francesco Tristano beginnt erst nach 80 Minuten mit der Moderation (Foto: Klavier-Festival Ruhr/Peter Wieler)
Die ersten 80 Minuten spielt Tristano ohne Pause und ohne Zwischenapplaus durch, was der Musik gut bekommt. Die letzten drei kurzen eigenen Werke sagt er an, wobei die Unterbrechungen eher stören. Neon City ist ein gefühlvoller Song ohne Worte mit Nähe zum Jazz wie auch die Zugabe Eastern Market. Hier baut Tristano ein langes Saxophon-Solo ein, natürlich vom Sythesizer erzeugt und zeigt damit ungewollt die Grenzen der elektronischen Musik auf: Ein klassisches akustisches Saxophon wäre eben auch schön gewesen. Tristanos Umgang mit Elektronik ist nicht nur hier mehr der eines DJs als experimentell - das legendäre Kölner Studio für elektronische Musik ist ganz weit weg. Aber sein Konzept geht ja auch in eine andere Richtung, nämlich der Aufhebung der Grenzen zwischen sogenannter E- und U-Musik. Die ist an diesem Abend alles in allem gelungen. Viel Applaus.
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Heilig-Kreuz-Kirche Gelsenkirchen 6. Juni 2024 AusführendeTristano Francesco, Klavier und ElektronikProgrammFrancesco Tristano (*1981):Introit Hello Girolamo Frescobaldi (1583 - 1643): Toccata Nr. 4 Toccata Nr. 9 Toccata Nr. 8 Das zweite Buch der Toccaten Francesco Tristano: Ritornello Luciano Berio (1925 - 2003): Sequenza IV Matteo Francheschini (*1979): Gravity Johann Sebastian Bach (1685 - 1750): Prélude aus der Englischen Suite Nr. 3 g-Moll BWV 808 Francesco Tristano: Electric Mirror Neon City The third bridge at Nakameguro Nagizaka Zugabe: Francesco Tristano: Eastern Market Klavierfestival Ruhr 2024 - unsere Rezensionen im Überblick
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