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Man spielt nicht mit dem Essen!von Stefan Schmöe / Fotos © Caroline Seidel, Ruhrtriennale 2024
So viel Romantik war lange nicht mehr in der Jahrhunderthalle. Die norwegische Regisseurin Eline Arbo macht die in warmes Licht getauchte Stirnwand des riesigen Industriebaus von 1902 zur Kulisse - was bei der Triennale, die an diesem Wochenende zu Ende geht, eher die Ausnahme blieb. Auch fällt immer mal wieder formidabler Bühnennebel von hoch oben herab. Und im Bühnenbild von Norunn Standal leuchten regelmäßig Lichtstäbe auf, die bis zur Decke reichen und die Höhe des riesigen Baus vermessen. Dazwischen laufen schon vor Beginn der Aufführung Gestalten in stilisierten historischen norwegischen Trachten aus dem 19. Jahrhundert, alle in Weiß, mit gruselig schwarz geschminkten Augen (Kostüme: Alva Walderhaug Brosten). Es sind wohl die Gespenster der Vergangenheit, die uns in dieser Produktion heimsuchen.
Haugtussa ist ein Zyklus von 70 Gedichten von Arne Garborg (1851 - 1924) aus dem Jahr 1895. Darin erzählt er die Geschichte des Bauernmädchens Veslemøy, von den Dorfbewohnern Haugtussa genannt (was in etwa "Geistermädchen vom Berg", verniedlicht "Trollmädchen", bedeutet), das übersinnliche Fähigkeiten besitzt und Kontakt zur Welt der Geister und Trolle aufnehmen kann. Als Außenseiterin abgestempelt, verliebt sie sich in einen jungen Bauernsohn. Der verlässt sie nach der gemeinsamen Liebesnacht umgehend. In Depressionen verfallen, wendet sich Haugtussa mehr und mehr der Geisterwelt zu. Garborg kontrastiert die märchenhafte Sphäre der Trolle und Geister mit realistischen Schilderungen des mühsamen Lebens auf den Höfen. Edvard Grieg hat 1895 acht der Gedichte als Liederzyklus vertont, die Eline Arbo in das Schauspiel einbindet. Weil Grieg sich dabei auf das Bauernmädchen (und weniger auf die Welt der Trolle) konzentriert, hat sie den niederländischen Komponisten Thijs van Vuure zusätzliche Musik komponieren lassen. Diese will dunkel raunend die geheimnisvolle Sphäre einfangen. Er verwendet dafür elektronische Klänge vom Synthesizer, aber auch traditionelle norwegische Instrumente, die er selbst nachgebaut und modifiziert hat (Nyckelharpa, Monochord, Seljefløyte und Kantele) und setzt Singstimmen mehrstimmig in choralartigen Passagen ein. Gespielt werden diese Instrumente von den Darstellerinnen und Darstellern auf der Bühne (die auch die kurzen Chorpartien singen). Van Vuures Musik hat insgesamt zu wenig Gewicht und kommt über atmosphärische Untermalung nicht hinaus. Was allerdings auch reicht, denn diese Produktion entpuppt sich eher als ein Schauspiel mit Musik denn als Musiktheater.
Mit wenigen Requisiten und ein paar Brechungen (etwa wenn die Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne die Pianistin zum Spielen auffordern) erzählt Arbo die Coming-of-Age-Geschichte sehr konzentriert und weitgehend naturalistisch nach. Gespielt wird vom Ensemble des norwegischen Nationaltheaters in norwegischer Sprache (mit deutschen und englischen Übertiteln), die sehr edel deklamiert wird und im Versmaß eine ganz eigene Musikalität entwickelt. Dem haftet im weitgehenden Verzicht auf Aktualisierung und auf Gegenwartsbezüge etwas wunderbar Altmodisches an. Diese Art des Sprechens im Versmaß entwickelt im Laufe der Aufführung allerdings auch eine gewisse Behäbigkeit. Über weite Strecken kann die Schauspielerin Kjersti Tveterås in der Titelpartie das Stück tragen. Die Natürlichkeit und Naivität des jungen Mädchens stellt sie mit entwaffnendem Charme dar, und die Liebesszene mit dem feschen, in Liebesdingen zunächst unerfahrenen Bauernsohn Jon (Christian Ruud Kallum) ist mit unerhörter Zärtlichkeit inszeniert. Bei der Rast in der Natur wird der Haferbrei nicht nur gegessen, sondern mehr und mehr zum neckischen Spiel verwendet, um den Körper des Gegenübers zu entdecken. Aber wie unsere Eltern wird man auch unter armen norwegischen Bauersleuten sicher streng gemahnt haben: Mit Lebensmitteln spielt man nicht! Die Strafe folgt auf dem Fuße. Die völlige körperliche wie emotionale Hingabe an Jon muss Veslemøy alsbald mit dem inneren Zusammenbruch bezahlen. Jon wendet sich nämlich der schwerreichen Gutsbesitzerin Trulla von Ås zu. Dabei wollte ausgerechnet diese ausgesprochen geschäftstüchtige und kompromisslose Frau zuvor Haugtussa und deren Familie von deren eigenem Hof vertreiben. Da bricht der rohe Kapitalismus in die idyllische Naturwelt ein. Die Jahrhunderthalle spielt perfekt mit.
Dem Ende des Stücks fehlt die Gefährlichkeit. Wenn sich Haugtussa mit einer öl- oder teerartigen schwarzen Masse bestreicht, ist das zwar szenisch das Gegenstück zum weißen Haferbrei der Liebesszene, bleibt aber auf der symbolischen Ebene. Der Absturz in Suizidgedanken bleibt allzu vage angedeutet. Spätestens hier müsste die norwegische Geisterwelt (die bei Arbo wenig Mystisches hat) irgendwie in unsere Gegenwart reichen. Und auch zuvor fehlte der Veslemøy als Zwischenwesen die geheimnisvolle, ja bedrohliche Aura, die sie doch auch besitzen müsste. So verharrt die (jederzeit schön anzusehende) Aufführung dann doch allzu sehr im 19. Jahrhundert.
Die Lieder Griegs sind inhaltlich Veslemøys verstorbener Schwester Lisabeth anvertraut, die wie eine Freundin und Gesprächspartnerin der Hauptfigur agiert. Wenn sie singt, kommentiert sie das Geschehen von einer objektiveren Erzählebene aus. Mit vollem, leuchtendem und eher hellem Mezzosopran gestaltet Adrian Angelico die Lieder eindrucksvoll mit lyrischer Emphase. Der Sänger (die Ruhrtriennale verwendet das Pronomen "er") wurde als Mädchen norwegisch-samischer Herkunft geboren und identifiziert sich geschlechtlich als nicht-binär. Gleichwohl entspricht das Timbre der Stimme dem, was man landläufig als Frauenstimme bezeichnet. Marita Kjetland Rabben am Klavier begleitet sensibel. Die Lieder sind geschickt in den Erzählfluss des Stückes eingebunden und wirken nicht als Zäsuren, sondern als Fortsetzung des gesprochenen Textes. Damit wird die poetische Dimension der Aufführung noch einmal verstärkt. Es ist eben ein sehr romantischer Abend in der Jahrhunderthalle.
Das Ensemble des norwegischen Nationaltheaters und Adrian Angelico zeigen eine sehr schöne, dichte Inszenierung des Gedichtszyklus' Haugtussa voller Poesie, die aber letztendlich ein wenig zu nostalgisch-harmlos bleibt.
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Produktionsteam
Inszenierung und Adaption
Bühnenbild und Licht-Design
Kostümbild
Sound Design
Choreographie
Dramaturgie Solisten
Lisabeth (Sopran)
Klavier
Veslemøy
Jon und Ensemble
Blaubergkönig und Ensemble
Die Mutter von Veslemøy und Ensemble
Die Trulla von Ås
Tanz und Ensemble
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- Fine -