Veranstaltungen & Kritiken Musikfestspiele |
|
Der unerreichbare Moment des Glücksvon Stefan Schmöe / Fotos © Jan Versweyveld
Sehnsucht nach morgen? Das Motto Longing for tomorrow, das über der mit dieser Produktion eröffneten Ruhrtriennale 2024 - 2026 steht, formuliert einen Kontrapunkt zur allgegenwärtigen Krisenstimmung, die zwischen Klimakatastrophe, Kriegen und sich abzeichnender Wahlerfolge demokratiefeindlicher Parteien und Kandidaten wenig Hoffnung in eine positive Zukunft zu setzen vermag. Wird die Kunst hier eine Form von Eskapismus? Man müsse neue Paradiese erfinden, hat Intendant Ivo Van Hove vor einiger Zeit in einem Interview geäußert. Wobei der 65jährige belgische Regisseur noch vor dem Beginn dieser Premiere ein wenig Sehnsucht nach gestern, also den vergangenen Triennalen, weckt: Der große Platz vor der Bochumer Jahrhunderthalle, dem Herz und Zentrum aller Ruhrtriennalen, ist leer und wird (anders als in den vergangenen Triennalen) nicht bespielt. Die liebgewonnene "Pappelwaldkantine", wo in entspannter Atmosphäre unter den 2006 unter der Intendanz von Jürgen Flimm angepflanzten Pappeln Speisen und Getränke verzehrt werden konnten, ist verschwunden. Die kulturelle Eroberung der leeren Industriebrachen war seit Beginn wesentlicher Bestandteil des Programms der Ruhrtriennale. Jetzt wirkt ausgerechnet dieser Vorplatz verwaist und merkwürdig ungastlich. Die Gastronomie ist hinter die schmale Kopfseite der Halle zum Wasserturm gezogen und muss sich dort als rosafarbenes "Wunderland" erst einmal in neuer Rolle als (so wird es bezeichnet) "Festivalzentrum" am Rand des Geschehens zurechtfinden.
Für seine erste Produktion allerdings ist Van Hove mit der Verpflichtung der Oscar-nominierten Sandra Hüller ein Coup gelungen. Wobei die Schauspielerin, zuletzt im Kino für ihre Hauptrollen in Anatomie eines Falles und The Zone of Interest gefeiert und ausgezeichnet, schon mehrfach bei der Ruhrtriennale und auch im benachbarten Bochumer Schauspielhaus gespielt hat. Diese Produktion ist ganz auf sie zugeschnitten und feiert ihren Star, der unglamourös und bescheiden auftritt. Und doch strahlt Sandra Hüller mit jedem Schritt und jeder Geste eine ungeheure Konzentration und Präsenz aus - und mit ihrer Stimme, denn sie ist als Sängerin gefordert. I Want Absolute Beauty lässt sich am ehesten als szenisch interpretierter Liederzyklus beschreiben. Ivo Van Hove hat 26 Songs der englischen Sängerin und Songwriterin PJ Harvey zusammengestellt, die sich inhaltlich zu einer vage angedeuteten Geschichte verbinden. Im Zentrum steht der Lebensweg einer Frau. Obwohl Harveys Texte meist auch autobiographische Aspekte beinhalten, ist es keine klingende Biographie der Künstlerin geworden, sondern hält geschickt eine Distanz, die das Kunstwerk (also die Lieder) von der Künstlerin trennt - nicht zuletzt, weil Sandra Hüller ihre eigene Persönlichkeit stark einbringt.
Der Abend ist in vier Abschnitte eingeteilt. "Part 1: Grow" beschreibt in zehn Songs Jugend und Verliebtsein, aber auch die Erfahrung von Gewalt (und auch Krieg), örtlich verbunden mit Harveys Heimat in der Grafschaft Dorset an der englischen Kanalküste. Der zweite Teil "Love und Personal und Political Disappointments" wird in London verortet, wo die Künstlerin sich in die Prostitution flüchtet (gekoppelt an den Song Angelene), der dritte "Big Exit" führt sie als gereifte Frau ins quirlige New York und der vierte "Back Home" zurück an die heimatliche Küste. Bühnenbildner Jan Versweyveld hat die (von Laternen wie an einer Promenade gesäumte) Bühne mit einer dünnen Torfschicht bedeckt, in der die Akteure vielfältige Spuren hinterlassen. Viele Aktionen werden live gefilmt und auf eine große Leinwand über der Szene projiziert, die aber auch für Videosequenzen genutzt wird. Dabei werden Dorset, London und New York zwar als Titel eingeblendet, bleiben aber im Bild nur vage angedeutet. Eindrucksvolle Bildsequenzen vom Meer gibt es erst am Ende, und das ist wohl eines der versprochenen Paradiese - aber nicht im Sinne einer schönen Landschaft, sondern als Ausdruck des Zurückkommens und Zu-sich-Findens. Weder Harvey noch Van Hove haben ein Patentrezept für das Entdecken der absoluten Schönheit, um die es im Titel geht. Der Abend ist aufgebaut als ein Stationendrama. Er erzählt, ohne konkret zu werden, vom Älterwerden und von der Summe an guten und bösen Erfahrungen, die uns dabei prägen. Und er beschreibt uns als Suchende nach Liebe und Glück. "Absolute Beauty" bezeichnet nicht zuletzt den Moment, den man als Erfüllung festhalten möchte: "Verweile doch! Du bist so schön."
Sandra Hüller ist vom Stimmtyp her PJ Harvey recht ähnlich. Sie verfügt vokal über eine zarte Zerbrechlichkeit wie über aggressive Power und trifft den Charakter der (von Band-Leaderin Liese Van der Aa geschickt arrangierten) Songs ganz ausgezeichnet. Wenn man etwas vermisst, dann am ehesten die insistierende Trostlosigkeit Harveys. Und hat man szenisch im ersten Teil noch etwas Sorge, dass Hüller unterbeschäftigt bleibt und ein wenig neben der Szene zu stehen und singen scheint, so wird sie später mehr und mehr hineingezogen in das Geschehen. Sie ist zärtlich und gealttätig, tobt und umarmt, filmt und tanzt, ohne dass der Gesang leidet. Schwieriger ist der Part des elfköpfigen Tanzensembles LA(HORDE), einem dem Ballett National de Marseille angegliederten Kollektiv, deren Leitungsteam Marine Brutti, Jonathan Debrouwer and Arthur Harel die Choreographie des Abends verantworten. Völlig gelöst von der Formensprache des akademischen Balletts werden bestimmte Abläufe pantomimisch angedeutet. Das bewältigen die Tänzerinnen und Tänzer eindrucksvoll und mit Charisma. Oft aber fungiert der Tanz lediglich als Begleitung des Stars und kommt nicht über eine Art Showballett hinaus. Ein größeres Problem erwächst daraus aber nicht, denn zu sehen und hören gibt es ohnehin genug.
Einen "besonderen Auftritt" (so steht's auf dem Programmzettel) hat die große Isabelle Huppert, allerdings nur in einer Videosequenz (live ist sie bei der Ruhrtriennale an drei Terminen als Racines Bérénice zu erleben). Wenn die Protagonistin zu ihrer verstorbenen Großmutter spricht, gibt Huppert, betörend schön und mit Weichzeichner und Lichteffekten verklärt, singend die Antwort. Das streift ganz leicht den Kitsch, wie vielleicht auch die Meeresbilder allzu schön und ungebrochen aufleuchten. Aber auf der Suche nach Schönheit, die zuvor viele Schattenseiten gezeigt hat, sei so viel Utopie erlaubt. Und wenn man unbedingt noch etwas einwenden möchte: Dieses Projekt ist keines, das an die Industrie-Architektur der Jahrhunderthalle gebunden wäre, sondern es würde wohl genauso im "normalen" Theater funktionieren. Programmatisch aber hat Van Hove eine starke Vorlage geliefert, die vom Publikum gefeiert wird - wie auch die an diesem Uraufführungsabend anwesende PJ Harvey.
Mit einer überragenden Sandra Hüller als Darstellerin gelingt Intendant Ivo Van Hove ein starkes, bewegendes Stück - ein großer Auftakt für die Ruhrtriennale 2024 - 2026.
|
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Konzeption und Inszenierung
Choreographie
Bühnenbild und Licht Design
Video Design
Kostümbild
Sound Design
Dramaturgie BandLiesa Van der AaAnke Verslype Neil Claes Alban Sarens SolistenSandra Hüller (Schauspiel / Gesang)In einer Videosequenz: Isabelle Huppert Tänzerinnen und TänzerCasper Tveteraas HaugeEfua Maria Aikins Emma Savoldelli-Harris Evan Sagadencky Jens van der Pijl Louka Gailliez Luca Völkel Nahimana Vandenbussche Sarah Abicht Timothy Firmin Tristan Sagon Setlist:Teil 1: Grow1. Grow, Grow, Grow 2. The River 3. The Piano 4. Send His Love to Me 5. C'mon Billy 6. The Mountain 7. Down by the Water 8. The Words That Maketh Murder 9. The Glorious Land 10. Big Exit Teil 2: Love and Personal and Political Disappointments 11. Angelene 12. The Dancer 13. Meet Ze Monsta 14. Rub 'til it Bleeds 15. Rid of Me 16. My Beautiful Leah 17. White Chalk Teil 3: Big Exit 18. Good Fortune 19. A Place Called Home 20. One Line 21. This Mess We're In 22. Beautiful Feeling Teil 4: Back Home 23. Talk to You 24. Desperate Kingdom of Love 25. Horses in My Dreams 26. We Float weitere Berichte von der Ruhrtriennale 2024 - 2026 Homepage der Ruhrtriennale Die Ruhrtriennale in unserem Archiv |
- Fine -