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Wer? Was? Wo? und vor allem: Warum?von Stefan Schmöe / Fotos © Katja Illner
Ein Tänzer geht in den Kopfstand und winkelt dann die Beine leicht ab. Aus dieser Körperhaltung ergibt sich der Buchstabe "Y" und damit der Titel dieser Veranstaltung. Gleichzeitig spielt das Muster auf die Bildgestaltung der beiden Gemälde auf den Kopfseiten dieses Raumes im Essener Folkwang-Museum an: Hochgebirge von Carl Gustav Carus, um 1824 entstanden als Kopie eines Gemäldes von Caspar David Friedrich, und Ksi von Morris Louis, entstanden 1960/61. In einem anderen Raum greift ein Tänzer die Bewegungen der Figuren im Farbentanz von Ernst Ludwig Kirchner auf. Wieder in einem anderen Raum bilden zwei Tänzerinnen aus fließenden Bewegungen heraus die Skulptur Mensch (Kain und Abel) von Rudolf Belling nach, erschaffen 1918. Anne Teresa de Keersmaeker und die Tänzer:innen ihrer Compagnie Rosas setzen sich auf der vordergründigsten Ebene mit Inhalt und Form von Kunstwerken des Museums auseinander. Das gelingt, ohne dass die Aktionen dabei bieder nachahmend wirken. Die Akteur:innen wahren eine Distanz zum Bild. Aber sie reagieren auf die Anwesenheit der Bilder und Skulpturen, und genau das fordert auch den Betrachter heraus, Stellung zu beziehen.
Spricht man den englischen Buchstaben Y laut aus, so ergibt sich die Frage "Why?" Es bleibt nicht die einzige Frage. In einem Raum zeigt eine Tänzerin auf eines der Quadrat-Bilder von Joseph Albers und fragt die Umstehenden: "What?" Und mit Verweis auf zwei Fotografien von Norbert Nicolas Kettler (*1942) mit dem Titel Mädchen im Frühling, die eine junge Frau in strenger Geometrie vor einem Baum zeigen, folgt konsequent die Frage: "Who?" Die Performerin spricht sehr direkt die Umstehenden an, mit allen W-Fragen, darunter auch "Why?" Im Hintergrund ertönt dazu eine Musikcollage von Alain Franco. Quer durch die klassische Musik bis zu Schlagern und Songs der jüngeren Vergangenheit steht hier sehr Unterschiedliches nebeneinander, oft nur ein paar Takte lang. Einiges kennt (und erkennt) man, manches bleibt rätselhaft. Viel Beethoven, manchmal Brahms. Zwölftonmusik. Opernchöre, Symphonien und Kammermusik. (Ja, und auch, es passt natürlich so schön, The Unanswered Question von Charles Ives.) Das Hauptthema aus dem Finale von Brahms' erster Symphonie und "Sag' mir, wo die Blumen sind" lassen sich, das ist hier zu erleben, sehr eindrucksvoll miteinander verschränken. Dabei hört man immer wieder aus benachbarten Räumen gleichzeitig verschiedene Musikstücke. Es ist erstaunlich, welche Auswirkungen die sehr unterschiedlichen Stimmungen auf die Wahrnehmung der Kunstwerke hat.
Y ist kein konventionelles Theaterstück mit Anfang und Ende, sondern eine Installation. Man bewegt sich frei durch die Räume dieses Ausstellungsbereichs, folgt (oder auch nicht) den Tänzer:innen, die fast nicht miteinander interagieren (für die schon erwähnte Szene vor der Skulptur von Belling finden sich Synne Elve Enoksen und Nina Godderis kurz zu einer Art Duo zusammen, was aber die Ausnahme bleibt). Eine lockere Dramaturgie gibt es aber offenbar schon. Ab und zu kündigt eine Stimme aus dem Off "Teil 1", "Teil 2" usw. an, und nach rund zwei Stunden scheint sich der Ablauf in etwa zu wiederholen. Kurz vorher mehren sich die Erlösungsmusiken: Chöre aus Parsifal und der Schluss der Götterdämmerung mit dem Erlösungsmotiv. Danach wirkt die Musik zurückgenommen. Es lässt sich freilich schwer entscheiden, wie weit das subjektive Erleben die eigentliche Dramaturgie ausmacht.
Es geht also um die großen Sinnfragen, und die stellen sich auch ganz ohne Tanz allein schon durch die ungewöhnliche Präsentation der Kunstwerke. So sieht man auf Ferdinand Georg Waldmüllers Gemälde Großmutterfreuden (1852) ein Familienidyll mit drei Generationen direkt neben einer Fotografie von Jacob Holdt (*1947) aus der Reihe American Pictures mit einer ähnlich glücklich dreinschauenden Familie, die stolz ihre Gewehre präsentiert. An zwei Wänden (in verschiedenen Räumen) sind großformatig Plakate von Oliviero Toscani aus den umstrittenen Kampagnen für das Modelabel Benetton abgebildet - auf einem sieht man drei menschliche Herzen mit den Aufschriften "White - Black - Yellow", auf dem anderen einen Soldaten, der einen menschlichen Oberschenkelknochen in den Händen hält. In solchen Kontexten - und mit der Musikcollage als akustischer Hintergrundfläche - entsteht eine faszinierende und oft beklemmende Wechselwirkung zwischen den Kunstwerken.
Konzeptioneller Ausgangspunkt, so lässt sich auf der Homepage des Museums nachlesen, soll Édouard Mants Ölgemälde Der Sänger Jean Baptiste Faure als Hamlet (1877) gewesen sein. Von diesem führt die gedankliche Leitlinie zu Hamlets Monolog aus Shakespeares Tragödie. "To be, or not to be" - Keersmaeker inszeniert einen Bewusstseinsstrom der westeuropäischen Kulturgeschichte, der sich aus Bildern und Tönen ergibt. Die Bewegungen der Tänzer:innen, die keiner akademischen Tanzsprache folgen, wirken wie ein Katalysator, der die Eindrücke verstärkt oder auch umlenkt. Dabei wechseln bedrohliche Phasen immer wieder mit Momenten der Entspannung ab. Die Installation zeigt unsere fragmentierte Welt als ein überwiegend düsteres und gewalttätiges Universum, aber nicht ohne einen Rest an Hoffnung. Antworten gibt Y nicht, im Gegenteil: Die hier gestellten Fragen werfen neue Fragen auf. Manches mag plakativ sein, und ausgerechnet der Tanz kann sich oft nicht von der Flut der Bilder und Töne emanzipieren. Aber in der Summe seiner Teile wächst Y zu einem nachhallenden Gesamtkunstwerk zusammen.
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Produktionsteam
Choreographie
Kreiert mit und performt von
Musik
Produktion
Künstlerische Produktionsleitung Ruhrtriennale
Kostüm Ruhrtriennale |
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