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Das ironische und das zarte Lächeln über den Zustand der Welt
Von Stefan Schmöe Müßiggang ist aller Laster Anfang: Diese Weisheit dürfte dem Essener Konzertpublikum noch lange nachhallen, so intensiv, wie sie im Fanfarenton achtmal vom exquisiten Männerquartett (Andrew Staples und Alessandro Fischer, Tenor; Ross Ramgobin, Bariton; Florian Boesch, Bassbariton) intoniert wird - und die vier haben hör- und sichtbar große Freude an ihrem Auftritt als Familie (Vater, zwei Brüder und - im Bass - die Mutter) in Kurt Weills Ballett-Kantate Die sieben Todsünden. Die Familie, die Schwester bzw. Tochter Anna in die Welt oder zumindest in die großen Städte Amerikas schickt, um das Geld für ein kleines Häuschen in Louisiana am Mississippi zu verdienen, und diese Anna ist eine gespaltene Persönlichkeit, Anna I und Anna II, die "vernünftige" (soll heißen: kühl kalkulierende) und die emotionale Anna. Und so verkehrt Bert Brecht die klassischen sieben Todsünden in ihr Gegenteil. Völlerei? 52 kg darf Anna laut Vertrag als Tänzerin wiegen, kein Gramm mehr - Germanys next Topmodels wissen sicher ein Lied davon zu singen. Und Unzucht ist, wenn man mit dem zusammenlebt, den man liebt, obwohl ein anderer besser zahlen würde. Dagegen aufbegehren? Auch Zorn und Stolz gehören zu den Todsünden. Man könnte diesen Text eigentlich mal genauer studieren, aber es ist zu befürchten, dass er bereits 1933, als Kurt Weill dieses Ballett für keinen geringeren als George Balanchine komponierte, vom Pariser Publikum eher als Erbauliches fürs Poesiealbum denn als Material für den Klassenkampf gehandelt wurde. Wenn das ballet chanté, das "gesungene Ballett", als Kantate den Weg in die Konzertsäle findet, unterstreicht das die Verbürgerung des Sujets, und Simon Rattle verleugnet auch keinen Moment, dass er mit einem formidablen Symphonieorchester angereist ist und nicht mit einer zwielichtigen Tanzkapelle. Aber der lässig-entspannte Tonfall, mit dem das vorzügliche London Symphony Orchestra sich mit absoluter Selbstverständlichkeit auf die (Tanz-)Musik einlässt und diese nicht zu schwer, aber auch eben nicht zu leicht nimmt, ist mitreißend. Zudem vibriert die Musik vor innerer Spannung, was sich in energiegeladenen, federnden Rhythmen widerspiegelt. Magdalena Kožená singt die Anna mit hellem, fast soubrettenhaft leichtem Ton, lied- und mädchenhaft naiv. Die pervertierten Ideale werden mit scheinbar heiligem Ernst hochgehalten. In gewisser Hinsicht ist das in seinem untergründigen Humor very british, denn natürlich funkeln Witz und Ironie auf. Aber das Stück verrutscht nicht zur Revue. Die Sieben Todsünden werden vielmehr zum doppelbödigen Vergnügen. Das Männerquartett bedankte sich für den tosenden Applaus mit einem hinreißend gesungenen Barbershop. Die Verankerung von Brecht/Weill im bourgoisen Konzertleben setzt sich fort, wenn ganz selbstverständlich nach der Pause Schumann gespielt wird, die schwierige zweite Symphonie C-Dur, die lange im Schatten der anderen drei Symphonien stand, aber in der jüngeren Vergangenheit, so scheint's, an Wertschätzung gewonnen hat. Rattle liefert mit seiner hochkonzentrierten Interpretation freilich ganz starke Argumente für dieses Werk, das er mit kammermusikalischer Zurückhaltung angeht, alles sehr fein ausmusiziert, auch hier die Binnenspannung enorm hoch hält. Große symphonische Entladungen gibt es nur ganz vereinzelt, der Klang bleibt licht und hell. Rattle geht geradezu behutsam mit der kleinteiligen Motivik um, fast als wolle er keine Note verletzen. Die große Geste macht das Stück schnell lärmend, die kleine Geste schützt es. Der Orchesterklang ist schlank, die Bläser werden enorm diszipliniert in den Gesamtklang eingebunden. Mendelssohns Duftigkeit ist nahe. Das (Bachs Musikalischem Opfer entlehnte) Hauptthema des langsamen dritten Satzes wird wie eine Kostbarkeit von Instrument zu Instrument weitergereicht. Das ist weniger Weltschmerz als ein melancholisch eingefärbtes Staunen. Das setzt sich fort in der Zugabe, Gabriel Faurés Pavane op. 50, bei der Soloflötist Gareth Davies mit betörendem Ton im Piano und Pianissimo glänzt, und es ist der fast demütige Zugang, der diese Wunschkonzert-Piece vor dem Kitsch bewahrt. Jede Wiederholung des Themas wird zum kleinen Klangwunder. Auch den energischen Mittelteil geht Rattle zurückhaltend an, ein paar Wölkchen in der Frühlingsbrise. Stehende Ovationen in der leider viel zu schlecht besuchten Essener Philharmonie. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
AusführendeAnna I und II:Magdalena Kožená, Mezzosopran Die Familie: Andrew Staples, Tenor Alessandro Fisher, Tenor Ross Ramgobin, Bariton Florian Boesch, Bass London Symphony Orchestra Leitung: Sir Simon Rattle WerkeKurt Weill:Die sieben Todsünden Ballett mit Gesang in acht Teilen Text von Bertolt Brecht Robert Schumann: Symphonie Nr. 2 C-Dur op.61 Zugabe: Gabriel Fauré: Pavane op.50
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