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Das Fremde in uns
Von Thomas Molke / Fotos von Wilfried Hösl Obwohl Jean-Philippe Rameau zu den bedeutendsten französischen Komponisten der Aufklärung zählt und einen großen Beitrag zur Entwicklung der Bühnenwerke weg von der höfischen Tragédie-lyrique eines Jean-Baptiste Lully mit dem Tanz als bloßem Divertissement hin zu einem direkten Bezug zur Handlung geleistet hat, sind seine Opern in Deutschland relativ selten zu erleben. Daher verwundert es schon beinahe, dass die Münchner Erstaufführung seiner ersten Ballettoper Les Indes galantes ein paar Monate auf eine Produktion der Staatsoper Nürnberg folgt, die sich drei Monate zuvor mit diesem Werk auseinandergesetzt hat (siehe auch unsere Rezension). Inspiriert ist die Oper von André Campras L'Europe galante, in dem Campra in einzelnen Episoden die Liebe in verschiedenen europäischen Nationen beschreibt. Rameau und sein Librettist Louis Fuzelier gehen in ihrer Bearbeitung über Europa hinaus bis nach Indien, wobei es sich hierbei nicht um das geographische Indien handelt, sondern mit "den Indien" (Les Indes) verschiedene exotische Gegenden im Osten und Westen gemeint sind. Da es sich um eine Ballettoper handelt, hat der Regisseur Sidi Larbi Cherkaoui seine 2010 in Antwerpen gegründete Eastman Company für die Tanzchoreographie eingebunden. Hébé (Lisette Oropesa) als Lehrerin im Prolog In einem Prolog beklagt Hébé, die Göttin der Jugend, dass die Kriegsgöttin Bellone junge Männer umwirbt, um sie in den Krieg zu führen, während sie selbst bemüht ist, die Menschen die Liebe zu lehren. Sie ruft den Liebesgott Amour zur Hilfe, um gemeinsam mit ihm in vier Geschichten aus fernen Ländern den Menschen die Augen zu öffnen, dass der Krieg in Wirklichkeit nur Unglück auf der Erde verbreite und daher die Liebe vorzuziehen sei. Cherkaoui verzichtet in seiner Inszenierung auf die exotischen Orte, an denen die Geschichten spielen und verlegt die exotische Fremde in unsere Gegenwart, wo sie in Form von Flüchtlingsströmen im Hier und Jetzt angekommen sind. Das geht mal mehr und mal weniger auf. Für den Prolog hat Anna Viebrock einen großen Klassenraum gestaltet, in dem Hébé als Lehrerin die französische und spanische Jugend unterrichtet. Wieso die Tänzerinnen und Tänzer der Eastman Company die Schultische mit den Schülern wie bei einer Achterbahnfahrt kippen und durch den Raum schieben, wird nicht ganz klar. Jedenfalls scheinen die kreischenden Schüler dabei großen Spaß zu haben. Weniger spaßig ist dann der Auftritt Bellones. In einem schwarzen Rock tritt Goran Juri ć als Kriegsgöttin mit dunklem Bass auf und raubt Hébé die Schüler. In schwarzer Hose erscheint dann Ana Quintans als Amour und unterstützt Hébé mit strahlendem Sopran.Happy End in der Museumsvitrine: Emilie (Elsa Benoit) und Valère (Cyril Auvity) mit dem Balthasar-Neumann-Chor in Le Turc généreux Für den ersten Akt verwandelt sich die Bühne dann in ein Museum. Le Turc généreux dürfte von der Geschichte an Mozarts Die Entführung aus dem Serail erinnern. Auch hier liebt ein Türke, Osman, eine Europäerin, Emilie, die von Piraten verschleppt und in seinen Harem gebracht worden ist. Bei Rameau ist es Emilies Geliebter Valère, der von einem Unwetter an Land gespült wird und dort auf seine Geliebte Emilie trifft, und natürlich zeigt sich auch Osman großzügig und lässt die beiden Liebenden ziehen. Viebrock hat für diesen Akt drei Vitrinen geschaffen, in denen Emilie wie andere Personen gewissermaßen ausgestellt werden. Fremdbestimmt werden die Menschen in den Vitrinen von den Tänzerinnen und Tänzern über die Bühne geschoben, um ihnen eine Pseudo-Freiheit zu suggerieren. Elsa Benoit stattet die Emilie mit leuchtendem Sopran aus. Tareq Nazmi versucht als Osman, mit markantem Bariton ihr Herz zu gewinnen. Aber natürlich hat er gegen den Tenor keine Chance. Cyril Auvity dringt als Valère in dieses Museum ein und bringt die Figuren in den Vitrinen ziemlich durcheinander. Beeindruckend wird hier der Tanz mit der Geschichte verwoben, wobei die Tänzerinnen und Tänzer der Eastman Company sich eines recht modernen Bewegungsvokabulars bedienen. Osman lässt seine geliebte Emilie mit Valère ziehen, und es kommt zu einer glücklichen musikalischen Vereinigung der beiden Liebenden. Taufe der besonderen Art in Les Incas au Pérou: Huascar (François Lis, Mitte) mit Carlos (Mathias Vidal, rechts) und Phani (Anna Prohaska) (im Hintergrund Tänzerinnen und Tänzer der Eastman Company) Der zweite Akt spielt dann in einer Kirche. In Les Incas au Pérou liebt Phani eine junge Priesterin den spanischen Eroberer Carlos und will ihr Volk aus der Tyrannei des Huascar befreien. Doch Huascar, der Phani begehrt, will sie nicht gehen lassen, und löst eine Naturkatastrophe aus, bei der er sich am Ende selbst in die Flammen stürzt. Diese Geschichte ist in Cherkaouis Inszenierung nicht einmal ansatzweise wiederzuerkennen. Da Huascar hier als Priester dargestellt wird, der zu Beginn auch noch Emilie aus der vorherigen Episode in den Beichtstuhl bittet und im weiteren Verlauf zahlreiche Paare vermählt und nur bei einem homosexuellen Paar den letzten Segen verweigert, geht der Bezug zu den Inkas völlig verloren, da somit gar nicht klar wird, mit welcher Religion der Eroberer Carlos hier eigentlich in Peru einfallen soll. Da nützen auch der flugs aufgestellte Altar im Hintergrund und das fantastische Spiel des Münchner Festspielorchesters unter Leitung von Igor Bolton nichts. Natürlich kann man die heilsbringende Ideologie der katholischen Kirche ebenso kritisieren wie Huascars Tyrannei in der Vorlage. Aber ob die Verabreichung des Abendmahls und die als Foltermethode missbrauchte Taufe dabei einer Naturkatastrophe gleichkommen können, bei der Huascar mit einer bloßen Berührung die Tänzerinnen und Tänzer der Eastman Company umfallen lässt, bleibt fraglich. Stimmlich begeistern Anna Prohaska als Phani mit weichem Sopran und Mathias Vidal als Carlos mit sauber angesetzten Höhen. François Lis verleiht dem Huascar mit markantem Bass diabolische Züge. Feierlicher Tanz in Les Fleurs: von links: Zaïre (Ana Quintans), Tacmas (Cyril Auvity), Fatime (Anna Prohaska) und Ali (Tareq Nazmi) mit den Tänzerinnen und Tänzern der Eastman Company
Nach der Pause führt die dritte Geschichte zurück ins Museum. Das fröhliche
Divertissement Les Fleurs wurde erst im Laufe der ersten Aufführungsreihe
in das Stück eingebaut, und Cherkaoui wählt - anders als Lea Scozzi in Nürnberg
- die ursprüngliche Fassung. Tacmas hat sich in die persische
Sklavin Zaïre
Flüchtlingsstrom in Les
Sauvages: oben rechts: Alvar (François Lis), unten links: Damon
(Mathias Vidal), in der Mitte: Tänzerinnen und Tänzer der Eastman Company
Während die Inszenierung nicht immer dem
Stück gerecht wird, gibt es musikalisch nichts zu beanstanden. Das Münchner
Festspielorchester unter der Leitung von Ivor Bolton erweist sich als Meister
barocker Klänge und arbeitet die musikalische Vielfalt der Partitur
differenziert heraus. Der Balthasar-Neumann-Chor überzeugt darstellerisch und
stimmlich genauso wie die Eastman Company mit ihrem modernen Bewegungsvokabular.
Auch die hochkarätigen Solisten lassen den Abend musikalisch zu einem Genuss
werden, der
FAZIT
Szenisch bietet die Aufführung in München einen ganz anderen Ansatz als die
Produktion in Nürnberg, wobei Laura Scozzis Regie in Nürnberg hier der Vorzug zu
geben ist. Musikalisch bewegt sich der Abend auf Festspielniveau.
Weitere Rezensionen zu den Münchner
Opernfestspielen 2016
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Produktionsteam
Musikalische Leitung Inszenierung und Choreographie Bühne Kostüme Licht Chor
Dramaturgie Miron Hakenbeck Münchner Festspielorchester Balthasar-Neumann-Chor, Kinderstatisterie der
SolistenHébé, Göttin der Jugend Bellone, Göttin des Krieges L'Amour, Gott
der Liebe Emilie Osman Valère Phani Carlos Huascar Tacmas Ali Fatime Zaïre Alvar Zima Adario Damon Tänzerinnen und Tänzer
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