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Musiktheater
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Münchner Opernfestspiele 2019

27.06.2019 - 31.07.2019

Agrippina

Dramma per musica in drei Akten
Libretto wahrscheinlich von Vincenzo Grimani
Musik von Georg Friedrich Händel

in italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3 h 55' (eine Pause)

Koproduktion mit dem Royal Opera House Covent Garden, London, der Dutch National Opera und der Staatsoper Hamburg

Premiere im Rahmen der Münchner Opernfestspiele im Prinzregententheater
am 23. Juli 2019

 

 



Bayerische Staatsoper München
(Homepage)

Zwei starke Frauen im antiken Rom

Von Thomas Molke / Fotos von Wilfried Hösl

Händels zweite und letzte Oper für Italien, Agrippina, markierte seinen Durchbruch als Opernkomponist. "Viva il caro Sassone!" soll das venezianische Publikum in jeder kleinen Pause gerufen haben, als mit diesem Werk die Karnevalssaison am 26. Dezember 1709 im Teatro San Giovanni Grisostomo eröffnet wurde, eine Ehre, die noch nie zuvor einem deutschen Komponisten zuteil geworden war. Neben der begeistert aufgenommenen Musik, die Händel zum großen Teil aus seinen früheren italienischen Werken übernommen hatte, überzeugte auch das Libretto mit der dicht gewobenen Handlung und den scharf gezeichneten Charakteren, das wahrscheinlich der Kardinal Vincenzo Grimani verfasst hatte, der gleichzeitig Vizekönig von Neapel unter den Habsburgern war und dessen Familie in Venedig das Theater gehörte, in dem die Uraufführung stattfand. Grimani hatte den Text bereits in den 1690er Jahren geschrieben, und es ist anzunehmen, dass Händel das Libretto für seine Komposition noch bearbeitet hat. Trotz des riesigen Erfolgs in Italien brachte Händel die Oper in London nicht noch einmal heraus, übernahm allerdings einen Teil der Arien in Rinaldo und Il pastor fido. Auf dem europäischen Festland war Agrippina noch einige Jahre lang in weiteren Aufführungen zum Beispiel in Neapel und Hamburg zu erleben, und in der heutigen Zeit gehört die Oper wieder zu den Werken, die auch außerhalb der diversen Händel-Festspiele ab und zu auf dem Spielplan der Bühnen stehen.

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Agrippina (Alice Coote) will, dass ihr Sohn Nerone (Franco Fagioli) neuer Kaiser wird.

Das Libretto ist eines der besten, das von Händel vertont wurde, und könnte auch als dramatisches Schauspiel überzeugen. Angelegt ist die Geschichte im Jahr 50 n. Chr. verquickt allerdings mehrere zeitlich nicht zusammengehörende Ereignisse, die in den Annalen des Tacitus und den Kaiser-Viten Suetons überliefert sind. Kaiserin Agrippina glaubt, dass ihr Ehemann Claudio (Claudius) in einem Sturm auf hoher See den Tod gefunden habe, und setzt nun alles daran, ihren Sohn Nerone (Nero) mit Hilfe der beiden Höflinge Pallante (Pallas) und Narciso (Narcissus) zum neuen Kaiser wählen zu lassen. Doch Claudio ist von seinem Feldherrn Ottone (Otho) aus den Wogen des Meeres gerettet worden und verspricht diesem nun aus Dankbarkeit, ihn zu seinem Nachfolger zu ernennen. Agrippina plant eine Intrige, indem sie Poppea, die Ottone liebt, allerdings auch von Claudio und Nerone begehrt wird, einredet, dass Ottone sie zugunsten des Throns Claudio überlassen wolle. Poppea bewirkt daraufhin beim Kaiser, dass dieser Ottone fallen lässt und stattdessen Nerone zu seinem Nachfolger auswählt. Doch Poppea durchschaut die Intrige und kann Ottone rehabilitieren. Agrippinas Ränkespiele fliegen auf. Allerdings kann sie sich mit der Entschuldigung retten, nur in Claudios Interesse gehandelt zu haben. Da Ottone für Poppea auf den Thron verzichten will, lenkt Claudio ein und ernennt Nerone erneut zu seinem Nachfolger. Giunone (Juno) steigt vom Himmel herab, um Rom eine glanzvolle Zukunft zu verkünden.

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Agrippina (Alice Coote, rechts) versucht, Poppea (Elsa Benoit, links) zu manipulieren.

Für das Regie-Team um Barrie Kosky ist die Handlung derart aktuell und spannend, dass in der Inszenierung auf antikes Kolorit verzichtet wird. Das Bühnenbild von Rebecca Ringst wirkt dabei zunächst sehr schlicht und nüchtern, entfaltet aber im Verlauf der Aufführung unglaubliche Möglichkeiten. Zunächst sieht man einen riesigen drehbaren zweistöckigen Kubus, der aus insgesamt drei doppelstöckigen Quadern besteht, die in beiden Ebenen jeweils in drei Blöcke unterteilt sind. Dunkle Alu-Jalousien an den Außenblöcken bewirken, dass unterschiedliche Räume schnell erzeugt werden können und ebenso schnell wieder verschwinden. Im mittleren Teil des Gebildes führt eine Treppe in die obere Etage empor. Auf Mobiliar wird in diesen Blöcken vollständig verzichtet. Erst nach der Pause werden die drei Quader getrennt und zunächst nur der mittlere mit der Treppe bespielt. Wenn Poppea dann Nerone und Claudio in ihr Schlafzimmer einlädt, um Nerone bei Claudio in Ungnade fallen zu lassen, öffnen sich zwei Blöcke und geben den Blick auf ein Zimmer mit einer Bar und einem riesigen Sofa in sterilem Weiß frei. Hier inszeniert Kosky in einer ausgeklügelten Personenregie ein grandioses Versteckspiel, das Qualitäten einer Slapstick-Komödie hat. Im weiteren Verlauf bilden die drei Quader dann einen Rahmen um die Bühne, bevor sie ganz zum Schluss wieder zum Ausgangsbild zusammengeführt werden. Die Oper endet nicht mit dem Jubelchor der Protagonisten oder dem Auftritt Junos. Kosky schenkt Agrippina eine intime Szene ganz allein. Nachdem alle anderen die Bühne verlassen haben, spielt das Orchester ein langsames Stück aus Händels Oratorium L'Allegro, il Penseroso ed il Moderato. Nachdenklich schreitet Agrippina zu einem weißen Hocker, der im mittleren Quader aufgestellt ist, und blickt ins Publikum, während sie allmählich hinter den Alu-Jalousien verschwindet.

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Agrippina am Ziel: Nerone (Franco Fagioli, Mitte) wird Claudios (Gianluca Buratto, rechts) Nachfolger (dahinter von links: Pallante (Andrea Mastroni), Narciso (Eric Jurenas) und Lesbo (Markus Suihkonen)).

Die Kostüme von Klaus Bruns stellen die Frauen, die in dieser Oper die treibende Kraft sind, in den Mittelpunkt. Die Männer funktionieren mit Ausnahme von Nerone in ihren Anzügen wie manipulierbare Figuren in einem politischen Machtapparat. Nerone ist mit seinen zahlreichen Tätowierungen und Piercings ein unangepasster Fremdkörper in diesem System. Das ändert sich auch nicht, wenn er am Ende zum Kaiser gekrönt wird. Da trägt er einen mit Gold verzierten schwarzen Anzug, der deutlich macht, dass seine Herrschaft anders und exzentrischer werden wird als die seiner Vorgänger. Agrippina wird als mondäne Frau dargestellt, die alles um sich herum manipuliert. In der aufwändig gestalteten schwarzen Robe zu Beginn der Oper wirkt sie noch wie eine trauernde Witwe, die sowohl ihren Sohn als auch die Höflinge Pallante und Narciso gekonnt beeinflusst. Wenn sie ganz am Ende wie ein Mann taktiert, trägt sie einen schwarzen Anzug und unterscheidet sich eigentlich kaum noch von den Männern. Anders verhält es sich bei Poppea, die stets durch sehr aufreizende Kostüme als Objekt der Begierde der Männer gezeichnet wird. Wenn Ottone sie im zweiten Akt scheinbar schlafend auf einer Blumenwiese findet, trägt sie mangels Wiese und Blumen ein zartgrünes Kleid mit Blumenmuster. Besonders eindrucksvoll ist die knallgelbe Robe mit einer wuchtigen Tüllschleppe, in der sie kurz vor der Szene in ihrem Schlafzimmer und am Ende des Stückes majestätisch über die Bühne schreitet und wesentlich verlockender wirkt als die Blechkrone, die Ottone zurückweist und Nerone dann dankend annimmt.

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Großartiges Versteckspiel in Poppeas (Elsa Benoit) Gemach: links: Ottone (Iestyn Davies), Mitte: Claudio (Gianluca Buratto) und rechts: Nerone (Franco Fagioli)

Kosky entwickelt mit den Solisten eine grandiose Personenregie, die die komischen Momente des Stückes unterstreicht, und von den Solisten großartig umgesetzt wird. Das beginnt schon bei der Umsetzung der zahlreichen und bisweilen sehr langen Rezitative, die in dieser Inszenierung niemals langweilig werden. Mit unterschiedlicher Intonation, Rhythmik, Lautstärke und Geschwindigkeit holen die Solisten derart viele Nuancen aus dem Text heraus, dass es schon an sehr gutes Sprechtheater erinnert. Neben der bereits erwähnten Szene in Poppeas Schlafzimmer ist auch das erste Treffen bei Poppea in der oberen Etage in drei Blöcken, die nur durch Türen verbunden sind, mit großartigem Tempo und wahnwitziger Komik umgesetzt. Wie hier Poppea, Lesbo und Claudio aneinander vorbeilaufen und sich nicht sehen, während alle in gewisser Weise mit Poppea agieren, bedarf schon einer sehr ausgeklügelten Logistik. Da versteht man eigentlich nicht, wieso sich in den großartigen Jubel für das Regie-Team auch einige Unmutsbekundungen mischen. Ist einem Teil der Zuschauer das Bühnenbild zu nüchtern? Handwerklich lässt sich jedenfalls an der Inszenierung nichts aussetzen.

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Gute Miene zum intriganten Spiel: von links: Narciso (Eric Jurenas), Pallante (Andrea Mastroni), Claudio (Gianluca Buratto), Lesbo (Markus Suihkonen), Nerone (Franco Fagioli), Agrippina (Alice Coote) und Poppea (Elsa Benoit)

Die Solisten sind allerdings nicht nur großartige Darsteller, sondern begeistern auch musikalisch auf ganzer Linie. Da ist zunächst einmal Alice Coote in der Titelpartie zu nennen. Mit farbigem Mezzosopran arbeitet sie die unterschiedlichen Nuancen der Kaiserin differenziert heraus. Direkt in ihrer ersten Arie "L'alma mia fra le tempeste" begeistert sie mit beweglichen Koloraturen, wenn sie voller Zuversicht ihre Intrigen gestartet hat, und glaubt sich zum Ende des ersten Aktes mit "Ho un non so che nel cor" am Ziel, wenn sie ihren Gatten dahingehend manipuliert hat, ihren Sohn als zukünftigen Kaiser auf den Thron zu setzen. Ihre Interpretation der großen Arie "Pensieri, voi mi tormentate" im zweiten Akt geht unter die Haut. Mit jeder Faser lässt Coote hier spüren, wie groß die Unsicherheit und Angst der Kaiserin ist. Einen weiteren musikalischen und szenischen Höhepunkt markiert ihre große Arie am Ende des zweiten Aktes "Ogni vento ch'al porto lo spinga", in der sie überzeugt ist, ihrem Sohn nun endgültig den Thron gesichert zu haben. Da greift sie wie ein Rockstar zu einem Mikrofon und geht auf der Bühne richtig ab, was beim Publikum große Begeisterung auslöst. Franco Fagioli ist als Nerone ein weiterer Glanzpunkt des Abends. Wie sein Countertenor mit strahlenden Höhen den exzentrischen künftigen Kaiser zeichnet, ist kaum zu übertreffen. Darstellerisch begeistert er durch großartige Komik, wenn er zu Beginn der Oper in den Zuschauersaal tritt und das Publikum als römisches Volk anspricht, dem er seine Unterstützung zusichert. Dabei interagiert er auch ganz individuell mit einzelnen Besuchern. Auch Nerones Lüsternheit spielt er bei Poppea absolut glaubhaft aus. Mit stupenden Koloraturen löst er in seiner letzten Arie "Come nube che fugge dal vento" einen regelrechten Begeisterungssturm beim Publikum aus und gibt in den furiosen Läufen schon einen Ausblick auf die Schrecken, die unter seiner Herrschaft noch folgen werden.

Elsa Benoit glänzt als Poppea mit strahlendem Sopran und leuchtenden Koloraturen und macht stimmlich und darstellerisch deutlich, dass sie eine ernstzunehmende Rivalin für Agrippina ist. Da kann diese dankbar sein, dass Poppea sich (noch) mit Ottone begnügt. Iestyn Davies gestaltet die Partie des Ottone mit einem weichen Countertenor, der wesentlich milder als Fagiolis Nerone klingt, was auch wunderbar zum Charakter des Feldherrn passt. Mit großer Leidensfähigkeit punktet er in seiner Arie vor der Pause, "Voi che udite il mio lamento", wenn er beklagt, von allen im Stich gelassen worden zu sein, und findet dabei wunderbar melancholische Töne, die unter die Haut gehen. Einen weiteren Höhepunkt stellt seine Arie "Tacerò, tacerò" im dritten Akt dar, wenn er Poppea verspricht, sich im Schrank zu verstecken und ihr Spiel mit Nerone und Claudio geduldig zu ertragen. Gianluca Buratto verfügt als Claudio über einen profunden Bass mit dunklen Tiefen. Dabei zeigt er sich in den Läufen stets flexibel und verfügt über großes komisches Talent, wenn er von seiner Gattin weg zu Poppea will und mehr oder weniger genervt verspricht, Nerone noch am gleichen Tag zum Nachfolger zu ernennen. In seiner großen Arie im zweiten Akt "Cade il mondo soggiogato" lässt er mit vokaler Kraft die vom Kaiser bezwungene Welt auch stimmlich in die Tiefen stürzen. Andrea Mastroni, Eric Jurenas und Markus Suihkonen runden als Pallante, Narciso und Lesbo das Ensemble überzeugend ab. Ivor Bolton begeistert mit dem Bayerischen Staatsorchester aus dem Graben durch einen filigranen Händel-Klang, der die unterschiedlichen Stimmungen und Farben präzise einfängt. Ganz großen Verdienst daran hat auch das fünfköpfige Continuo-Ensemble.

FAZIT

Barrie Kosky gelingt es, mit einem absolut spielfreudigen Ensemble die fast vierstündige Inszenierung ohne jegliche Längen und stets packend umzusetzen. Die musikalische Leistung des Abends lässt ebenfalls keine Wünsche offen.

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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Ivor Bolton

Inszenierung
Barrie Kosky

Bühne
Rebecca Ringst

Kostüme
Klaus Bruns

Licht
Joachim Klein

Dramaturgie
Nikolaus Stenitzer

 

Bayerisches Staatsorchester

Continuo-Ensemble
Joy Smith, Harfe
Michael Freimuth, Theorbe
Yves Savary, Violoncello
Roderick Shaw, Cembalo
Christopher Bucknall, Cembalo und Orgel


Solisten

Claudio
Gianluca Buratto

Agrippina
Alice Coote

Nerone
Franco Fagioli

Poppea
Elsa Benoit

Ottone
Iestyn Davies

Pallante
Andrea Mastroni

Narciso
Eric Jurenas

Lesbo
Markus Suihkonen

 


Weitere
Informationen

erhalten Sie unter 
Bayerische Staatsoper München
(Homepage)



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