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Musiktheater
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Lost an Found

A simple piece

Ballett von Demis Volpi
Musik von Caroline Shaw (Partita for 8 voices)

Allure

Ballett von Demis Volpi
Musik von Nina Simoni ("Good bait")

Love Song (Ausschnitt)

Ballett von Andrey Kaydanovskiy
Musik von Jacques Brel ("Ne me quitte pas", gesungen von Nina Simone)

Erbarme Dich

Ballett von Neshama Nashman
Musik von J. S. Bach (Arie Erbarme Dich aus der Matthäuspassion)
- Uraufführung -

Solo

Ballett von Hans van Manen
Musik von J. S. Bach (Corrente und Double aus der Partita Nr 1 h-Moll für Violine BWV 1002)

Little Monsters

Ballett von Demis Volpi
Musik von Elvis Presley (Love Me Tender, I Want You, I Need You, I Love You, Are You Lonesome Tonight

Salt Womb

Ballett von Sharon Eyal und Gai Behar
Musik von Ori Lichtik

Aufführungsdauer: ca. 2h 30' (zwei Pausen)

Premiere am 19. Juni 2021 im Theater Duisburg
(rezensierte Aufführung: 26. Juni im Opernhaus Düsseldorf)


Homepage

Ballett am Rhein / Rheinoper
(Homepage)
Mensch und Maschine

Von Stefan Schmöe / Fotos von Daniel Senzek, Bernhard Weis und Bettina Stöß

Das erste Jahr von Demis Volpi als Ballettchef an der Rheinoper ist von der Pandemie bestimmt. Wenn überhaupt getanzt werden durfte, dann nur unter strengen Vorgaben: Kleine Trainingsgruppen und strenge Abstandsregeln (auch in den Proben). Zum Saisonbeginn konnte er an drei Abenden mit den Titeln A first Date: Episode 1, 2 und 3 kurze Ausschnitte aus eigenen Choreographien und Miniaturen zeigen, kurz vor dem kompletten Theater-Lockdown dann mit Far and near and all around einen Abend mit immerhin zwei etwas längeren Arbeiten, eine davon, A simple Piece, von ihm selbst choreographiert. Viel besser sieht es auch jetzt am Saisonende nicht aus, aber immerhin ist kurzfristig ein Tanzabend von zweieinhalb Stunden Dauer (mit zwei Pausen) möglich. Der Titel Lost and found spielt darauf an, was in der Zeit von Corona verloren ging und jetzt hoffentlich wiederentdeckt wird.

Vergrößerung A simple Piece: Aufnahme aus dem Stream, der bei Operavision verfügbar ist (Foto © Daniel Senzek)

Dafür hat Volpi einiges aufgegriffen, was schon im vergangenen Herbst zu sehen war, so auch A simple Piece. In ihrer etwa halbstündigen Komposition Partita for 8 Voices für acht Solostimmen a capella spielt Caroline Shaw die verschiedenste Möglichkeiten des Sprechens und Singens durchspielt, immer wieder raffiniert gespickt mit Anklängen an Chormusik und Madrigale der Renaissance. Dem entsprechen auf der Bühne acht androgyne, kaum unterscheidbare Tänzerinnen und Tänzer, die unter Wahrung der Abstandsregeln recht minimalistische, streng durchorganisierte Bewegungsmuster ausführen. Isolation und Gruppe, Interaktion trotz Abstand, das sind die Motive. Aber warum fehlt dann fast jegliche Individualität, warum agieren die Akteure wie Roboter? Auch beim zweiten (zählt man die Übertragung im Stream mit sogar dritten) Sehen haftet der Choreographie etwas sehr Etüdenhaftes an. Und anders als bei der Musik fehlt der Witz. A simple Piece ist nicht uninteressant, aber auch nicht wirklich berührend.

Vergrößerung

Salt Womb (Foto © Bettina Stöß)

Es gibt durchaus Parallelen zu Salt Womb von Sharon Eyal und Gal Behar, entstanden 2016 am Nederlands Dans Theater, das mit etwa 40 Minuten Dauer das zweite große Werk des Abends bildet und am Ende steht. Auch hier gibt es ein Kollektiv, bestehend aus diesmal neun Tänzer*innen, die zunächst auf Abstand im Kreis stehen und sich wie Automaten bewegen. Ori Lichtik ("einer der Gründungsväter der Technoszene in Israel", wie man auf den Web-Seiten der Bayersichen Staatsoper München nachlesen kann) hat dafür eine dröhnende, stampfende Maschinenmusik geschrieben, die nach und nach etwas sanfter und transparenter wird (da hat sie schon ein paar zartbesaitete Besucher aus dem Saal vertrieben), aber den unnachgiebigen Puls beibehält. Zunächst stehen die Akteure breitbeinig in Body-Builder-Pose da, was die Körper groß und muskulös erscheinen lässt (die Beleuchtung unterstützt das raffiniert). Zum hämmernden Takt der Musik vollführen sie stampfende Bewegungen, bilden ein komplexes Kollektiv. Nach einiger Zeit verändert eine Tänzerin die Körperhaltung, betont nicht mehr die Horizontale, sondern richtet sich nach oben aus, wirkt plötzlich sehr schlank und sexy, zeigt viel Bein, und obwohl der Tanz auch bei ihr dem geradezu brutalen Rhythmus der Musik unterworfen ist, entsteht ein faszinierender Kontrast. Eben dieses Spannungsverhältnis zwischen Gruppe und Individuum, hier auch zwischen Mann und Frau, ist sehr viel stärker ausgeprägt als bei Volpis Simple Piece, und es gibt mehr Veränderungen und Überraschungsmomente. Mit etwa 40 Minuten ist die Choreographie vielleicht etwas lang geraten, die wummernden Beats ermüden irgendwann doch. Aber vielleicht ist das ja mitgedacht. Und der rätselhafte Titel ("Womb" lässt sich mit "Gebärmutter" oder, poetischer, "Schoß" übersetzen)? Der bleibt ein Irritationsmoment. Tanz als demonstrativer Kraftakt, ein Gegenpol zur schwerelosen Ballettkunst des 19. Jahrhunderts: Die schweißtreibende Choreographie ist im positiven Sinn eine Zumutung für das Publikum.

Vergrößerung Allure (hier: Simone Messmer), Foto © Bernhard Weis

Im Mittelteil zeigt Volpi fünf sehr kurze Choreographien, darunter als Neueinstudierung Solo von Hans van Manen, uraufgeführt 1997 am Nederlands Dans Theater in Den Haag. Zu Corrente und Double aus der ersten Partita für Solo-Violine von J.S. Bach wird dieses Solo von drei Tänzern im fliegenden Wechsel getanzt, stark energiegeladen, durch überzogene Posen immer wieder blitzlichtartig ironisch gebrochen und atemberaubend schwungvoll. Hier bleibt die durch die Virtuosität eingeforderte Anstrengung spielerisch leicht, und inszeniert ist das mit van Manens unvergleichlicher Lässigkeit. Tommaso Calcia, Miquel Martinez Pedro und James Nix tanzen großartig.

Ein echtes Solo ist Erbarme Dich zu Bachs Arie aus der Matthäus-Passion von Neshama Nashman. Die junge Kanadierin tanzt seit Saisonbeginn in der Compagnie des Ballet am Rhein und entwickelt nebenher eigene Choreographien - diese hat Volpi so beeindruckt, dass er sie gleich auf das Programm gesetzt hat. Dieser Musik, die sicher zum Allerheiligsten der europäischen Kulturgeschichte gehört, muss natürlich kein Tanz entgegengesetzt werden, und das ist die Last, gegen die Nashman ankämpfen muss. Der Solist (eindrucksvoll: Julio Morel) in weiter Hose und mit entblößtem Oberkörper steht allein im sehr leeren, immerhin mit warmem Licht gefluteten Raum, vermisst dieses mit seinen Bewegungen, die nicht nach Demuts- oder Verzweiflungsgesten aussehen, eher eine vorsichtige Selbstvergewisserung. Der Mensch bleibt klein und zeigt in seiner Suche doch Größe. So ganz gegen Bachs übergroße Musik behaupten kann sich das vielleicht nicht, aber mit dem Gespür für Tempo und Raum setzt Neshama Nashman ein Zeichen: Von ihr möchte man gerne mehr Choreographien sehen.

Vergrößerung

Love Song (Foto © Bernhard Weis)

Leichter mit der Musik machen es sich die drei anderen kleinen Werke. Zu drei, pardon, Schnulzen von Elvis Presley (Love Me Tender, I Want You, I Need You, I Love You, Are You Lonesome Tonight) zeigt Demis Volpi in drei Akten en miniature die Liebesgeschichte eines jungen Paares - sehr erotische Annäherung und Umklammerung (in der vielleicht schon die Trennung angedeutet ist), Extase und Entfremdung. Volpi hat mit diesem raffinierten pas de deux, bei dem sich Tommaso Calcia und Futaba Ishikazi aus extremer Nähe in größte Entfernung begeben, eine 10-minütige Auseinander-Bewegung, 2011 in Kanada den Erik-Brun-Preis gewonnen und die Arbeit danach mehrfach gezeigt, u.a. 2015 in Dortmund. Ob die beiden jungen Menschen, die sich hier allzu schnell verlieren, die kleinen Monster des Titels sind, oder ob diese kleinen Monster die allzu schnell verfliegenden "Schmetterlinge im Bauch" sind, das bleibt hübsch doppelbödig offen. Das kleine, erotische Stück konnte kurzfristig innerhalb von zwei Wochen einstudiert und in das Programm aufgenommen werden, weil sinkende Inzidenzen ein Aussetzen der Abstandsregeln (bei Testpflicht) erlaubten.

Vergrößerung Love Song (Foto © Bernhard Weis)

Allure hat Demis Volpi bereits in A first Date - Episode 1 gezeigt. Eine Tänzerin steht mit dem Rücken zum Publikum, scheint die Besucher mit einer durchaus erotischen Bewegungssprache geradezu verführen zu wollen, tanzt später kokett auf Spitze, erobert den Raum - auch ein Stück über die Interaktion Tänzerin und Publikum. Simone Messmer habe ich als eine Spur lasziver, fordernder in Erinnerung als Doris Becker, die an diesem Abend mit großer Intensität tanzt. Und auch den pas de deux aus Love Song von Andrey Kaydanovskiy konnte man bereits sehen (in der Episode 3), wobei man auch jetzt gerne wüsste, wie es weitergeht mit dem Paar, dass sich in beinahe slapstickhafter Komik findet und verliebt. Es wird eben höchste Zeit, dass die Pandemie wieder große Stücke ohne Einschränkungen zulässt.


FAZIT

Ein durchaus spannender Ballettabend, wobei der abwechslungsreiche, notgedrungen erneut kleinformatige Mittelteil die stärksten Eindrücke hinterlässt.


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Produktionsteam

A simple piece

Choreographie
Demis Volpi

Kostüme
Carola Volles

Licht
Volker Weinhardt

Dramaturgie
Carmen Kovacs

Tänzerinnen und Tänzer

* Besetzung der rezensierten Aufführung

Yoav Bosidan /
* Niklas Jendrics
Rubén Cabaleiro Campo /
* Edvin Somai
Marjolaine Laurendeau /
Norma Magalhães /
* Maria Luisa Castillo Yoshida
Pedro Maricato /
* Evan L'Hirondelle
Clara Nougué-Cazenave /
* Feline van Dijken
Rose Nougué-Cazenave /
* Courtney Skalnik
Marié Shimada /
* Futaba Ishizaki
Daniel Smith /
* Eric White


Allure

Choreographie
Demis Volpi

Kostüme
Katharina Schlipf

Licht
Claudia Sánchez

Einstudierung
Damiano Pettenella

Uraufführung: Stuttgart Ballett,
Opernhaus Dortmund, 2012


Tänzerinnen und Tänzer

Simone Messmer /
* Doris Becker


Love Song

Choreographie
Andrey Kaydanovskiy

Kostüme
Karoline Hogl

Uraufführung:
Young Choreographers des
Wiener Staatsballetts, Wien 2014


Tänzerinnen und Tänzer

Feline van Dijken
Eric White


Erbarme Dich

Choreographie, Bühne, Kostüme
Neshama Nashman

Licht
Volker Weinhardt


Tänzerinnen und Tänzer

Miquel Martínez Pedro /
* Julio Morel


Solo

Choreographie
Hans van Manen

Bühne und Kostüme
Keso Dekker

Licht
Joop Caboort

Einstudierung
Alexandre Simões

Uraufführung:
Nederlands Dans Theater, Den Haag, 1997


Tänzerinnen und Tänzer

Kauan Soares /
* Miquel Martínez Pedro
Daniele Bonelli /
* James Nix
Orazio di Bella /
* Tommaso Calcia


Little Monsters

Choreographie
Demis Volpi

Kostüme
Katharina Schlipf

Licht
Bonnie Beecher

Dramaturgie
Carmen Kovacs

Einstudierung
Damiano Pettenella

Uraufführung:
National Ballet of Canada, 2011

Tänzerinnen und Tänzer

Futaba Ishizaki
Tommaso Calcia


Salt Womb

Choreographie
Sharon Eyal
Gai Behar

Kostüme
Sharon Eyal
Gai Behar
Rebecca Hytting

Licht
Alon Cohen

Einstudierung
Léo Lérus

Uraufführung:
Nederlands Dans Theater, Den Haag, 2016

Tänzerinnen und Tänzer

* Besetzung der rezensierten Aufführung

Paula Alves /
* Daniele Bonelli
Tommaso Calcia /
* Elisabeth Vincenti
Orazio di Bella /
* Kauan Soares
* Charlotte Kragh /
So-Yeon Kim-von der Beck
Miquel Martínez Pedro /
* Sara Giovanelli
Doris Becker /
* Simone Messmer
James Nix /
* Gustavo Carvalho
Emilia Peredo Aguirre /
* Mariana Dias
Dukin Seo /
* Nelson López Garlo






Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Ballett am Rhein
(Homepage)



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