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Erinnerungen
eines Königs in der virtuellen Realität Von Thomas Molke / Fotos:© Isabel Machado RiosMit dem zu Beginn der Spielzeit 2019/2020 gegründeten Opernstudio NRW kooperieren die Oper Dortmund, das Aalto-Musiktheater Essen, das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen und die Oper Wuppertal, um jungen Künstlerinnen und Künstlern einen praxisorientierten Übergang vom Studium in ein Engagement zu ermöglichen. Dazu wird ein breites Repertoire erarbeitet, das den Bogen vom Frühbarock bis zur zeitgenössischen Musik spannt und die unterschiedlichen Genres abdeckt. In kleineren Rollen an den einzelnen Opernhäusern haben die jungen Sängerinnen und Sänger zum einen die Gelegenheit, Erfahrungen mit unterschiedlichen Regisseuren, Dirigenten und Orchestern zu sammeln und damit weitere Kontakte zu knüpfen. Zum anderen arbeiten sie in Meisterkursen, die an diesen Häusern teilweise auch öffentlich abgehalten werden, mit international renommierten Dozentinnen und Dozenten. Ein weiterer Höhepunkt des Opernstudios ist eine eigene Produktion, die jeweils am Ende der Spielzeit steht. Diese war eigentlich bereits für Juni 2020 angesetzt, doch bekanntlich hat die Corona-Pandemie diesen Planungen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nun kann man am Musiktheater im Revier mit einem Jahr Verspätung doch noch Giovanni Paisiellos Il Re Teodoro in Venezia erleben, und zwar im Großen Haus - ursprünglich sollte die Produktion im Kleinen Haus stattfinden. Paisiello gehört - ähnlich wie Antonio Salieri - zu den Komponisten des ausgehenden 18. Jahrhunderts, deren Opernschaffen heutzutage nur noch im Schatten von Wolfgang Amadeus Mozart steht. Dabei darf der Einfluss, den er auf Mozart und andere Komponisten wie Rossini gehabt hat, keineswegs unterschätzt werden. So hat er beispielsweise 1782 in seiner Zeit am Zarenhof in St. Petersburg einen Barbiere di Siviglia komponiert, der sich auch 1816 in Rom noch so großer Beliebtheit erfreute, dass es für Rossini als Risiko angesehen wurde, den gleichen Stoff zu vertonen. Ob es allerdings der Respekt Rossinis vor Paisiello gewesen ist, der dazu führte, dass Rossinis Oper zunächst unter dem Titel Almaviva o sia L'inutile precauzione herauskam, oder der Einfluss des Startenors Manuel del Pópulo Vicente García, der bei der Uraufführung die Partie des Conte Almaviva sang, ist fraglich. Il Re Teodoro in Venezia kam am 23. August 1784 am Burgtheater Wien zur Uraufführung, zwei Jahre vor Mozarts Le nozze di Figaro, und wenn man die Musik hört, kommt einem vieles ziemlich bekannt vor. Wenn der König seinen Diener Gafforio beispielsweise in einer Arie maßregelt, meint man Mozarts berühmtes "Non più andrai, farfallone amoroso" zu hören, in dem Figaro dem jungen Cherubino erklärt, dass mit seiner Verpflichtung beim Militär seine amourösen Abenteuer nun ein Ende haben werden. Gafforio (Tobias Glagau, links) verrät dem Gastwirt Taddeo (Demian Matushevskyi, rechts), dass Teodoro der König von Korsika ist. Hinter der Titelfigur verbirgt sich der 1694 in Köln geborene Freiherr Theodor Stephan von Neuhoff, dem es gelang, als erster und einziger frei gewählter König von Korsika in die Geschichte einzugehen. Seiner Herrschaft war allerdings nur eine kurze Zeit vergönnt. So musste er vor seinen Feinden fliehen und verschuldete sich auf der Suche nach neuen Unterstützern immer mehr. In London wurde er schließlich verhaftet, wobei es in Mode war, den "gefallenen" König im Gefängnis zu besuchen. Auch Voltaire widmete ihm in seiner satirischen Novelle Candide ein Kapitel. Zu Beginn der Oper befindet sich Teodoro bereits auf der Flucht in Venedig. Er verliebt sich in Lisetta, die Tochter des Gastwirts Taddeo. Lisetta will eigentlich den jungen Sandrino heiraten. Aber als sie und ihr Vater von Teodoros Diener Gafforio erfahren, dass Teodoro ein König sei, halten beide eine Verbindung mit Teodoro für lukrativer. So gibt Lisetta Sandrino den Laufpass. Doch Sandrino bleibt nicht untätig und verbündet sich mit Acmet, der mit Teodoros Schwester Belisa nach Venedig gekommen ist, um Teodoros Schulden einzutreiben. Teodoro gelingt es zunächst, Taddeo zu überzeugen, die Schulden des Königs zu begleichen, indem er ihn zum General befördert. Bei der Hochzeit mit Lisetta muss Teodoro allerdings erkennen, dass ihn auch das Geld des Gastwirtes nicht vor dem finanziellen Ruin retten kann. Er wird verhaftet, und alle wenden sich von ihm ab. Der alte König (Olaf Roth in der Projektion) erinnert sich (in der Luft von links: Acmet (Daegyun Jeong), Taddeo (Demian Matushevskyi), Lisetta (Wendy Krikken), Sandrino (Adam Temple-Smith), Belisa (Mercy Malieloa) und Gafforio (Tobias Glagau)). Das Regie-Team um Sebastian Welker entwickelt das Stück aus der Retrospektive und lässt den König zunächst als alten Mann (dargestellt vom Dramaturgen Olaf Roth) erscheinen, in dessen Erinnerung die Geschichte abläuft. Dazu hat man das Publikum mit VR-Brillen ausgestattet, die immer dann in eine virtuelle Realität entführen, wenn in den Übertiteln der Hinweis "Opernglas 2.0" erscheint. Bei der Ouvertüre gibt es dabei wohl noch vereinzelt technische Probleme, weshalb Intendant Michael Schulz nach der Ouvertüre die Aufführung noch einmal kurz unterbricht, um einzelne Brillen im Publikum nachjustieren oder austauschen zu lassen. Dann funktioniert aber alles, und man kommt somit in den Genuss, die Ouvertüre ein zweites Mal zu hören. Durch die Brille sieht man Bilder, die mit einer 360°-Kamera gefilmt worden sind, kann also auch den Kopf nach rechts und links drehen und bleibt in der virtuellen Realität. Zunächst taucht man quasi durch das Auge des alten Königs auf einer rasanten Achterbahnfahrt in den Körper der Titelfigur ein und sieht nun die Situation aus seiner Perspektive. Der alte König befindet sich in einem Krankenbett und wird von einer Schwester (Belisa) und einem Arzt (Acmet) behandelt. Im Krankenbett durchlebt er jetzt noch einmal die Ereignisse in Venedig. Teodoro (Timothy Edlin, vorne) will Lisetta (Wendy Krikken, hinten rechts) heiraten und ihren Vater Taddeo (Demian Matushevskyi, hinten links) zum General ernennen (in der Mitte hinten: Belisa (Mercy Malieloa)). Galya Solodovnikova hat die Lagunenstadt Venedig als riesigen angeschrägten Bilderrahmen konzipiert. Eine spannende Laser-Animation (Luchs.US / Laseranmation Sollinger) lässt auf diesem Bilderrahmen eine im Nebel wabernde Wasserfläche entstehen, durch die die einzelnen Figuren des Stücks immer wieder auftauchen. Der junge König bewegt sich in der Regel außerhalb dieses Rahmens, während die anderen Figuren den Bilderrahmen nicht verlassen. Bisweilen taucht das Publikum mit den VR-Brillen auch in die Gedanken der anderen Figuren ein. Im Hintergrund sieht man dann die jeweilige Figur in Großaufnahme. Der Blick durch die Brille zeigt dann, was in der Figur gerade vorgeht. Diese Bilder sind in der Regel grob gepixelt, um deutlich zu machen, dass es hierbei um leicht verschwommene Gedankenspiele geht. So sieht man Lisetta mal mit Sandrino als glückliche Familie mit Kinderwagen in einem Park, dann Lisetta als Königin oder Taddeo als einflussreichen General. Zentral kehrt man mit der VR-Brille aber immer wieder an Teodoros Krankenbett zurück. Hier sind die Einstellungen sehr scharf und wirken absolut real. Nahezu unheimlich wird es, wenn dann am Krankenbett Taddeo als General und Lisetta im Hochzeitskleid auftauchen. Man hat wirklich den Eindruck, dass Lisetta den Schleier über das Gesicht des Betrachters zieht. Da hilft es auch nicht, wenn man tiefer in seinen Sitz rutscht, um dem Schleier auszuweichen. Am Ende scheint Teodoro dann tot zu sein. Durch die virtuelle Brille wird eine Art Leichensack über dem Betrachter geschlossen. Teodoro (Timothy Edlin, hinten) wachsen die Feierlichkeiten über den Kopf (von links: Lisetta (Wendy Krikken), Gafforio (Tobias Glagau), Belisa (Mercy Malieloa) und Sandrino (Adam Temple-Smith)). Das durchweg junge Ensemble überzeugt nicht nur darstellerisch durch große Spielfreude sondern auch musikalisch. Da ist zunächst Timothy Edlin in der Titelpartie zu nennen. Er gestaltet den König mit profundem Bass-Bariton. Beeindruckend wandelt er wie ein Betrachter außerhalb des Geschehens und transportiert glaubhaft die Oberflächlichkeit der Figur. Wendy Krikken verfügt als Lisetta über einen jugendlichen Sopran und punktet mit keckem Spiel. Demian Matushevskyi gibt den Gastwirt Taddeo, der von einer Offiziers-Karriere träumt, mit großem komischem Potenzial und herrlichem Buffo-Bass. Adam Temple-Smith leidet als verschmähter liebender Sandrino mit weichem Tenor, zeigt sich dann jedoch kämpferisch, wenn er dem König die Schuldner auf den Hals hetzt. Mercy Malieloa und Daegyun Jeong agieren als Belisa und Acmet mal als Figuren im Stück, die dem König seine Grenzen deutlich machen und auch die anderen Figuren manipulieren, und fungieren dann als Spielleiter, die dem Publikum erklären, wann die VR-Brillen zu nutzen sind. Tobias Glagau, der eigentlich nicht zum Opernstudio NRW gehört, rundet als Diener Gafforio mit beweglichem Spieltenor und komödiantischem Spiel das Ensemble wunderbar ab. Robin Phillips führt die Neue Philharmonie Westfalen mit leichter Hand durch Paisiellos Partitur, so dass es für alle Beteiligten am Ende verdienten Applaus gibt.
FAZIT Diese Inszenierung bietet mit den VR-Brillen ein ganz neues Theater-Erlebnis. Es wäre wünschenswert, dass diese Produktion auch in die nächste Spielzeit übernommen wird.
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ProduktionsteamMusikalische Leitung Inszenierung Bühne und Kostüme Videokonzeption Licht Dramaturgie
Neue Philharmonie Westfalen
BesetzungTeodoro Gafforio Acmet Taddeo Lisetta Sandrino Belisa Teodoro (alt)
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