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The Turn of the Screw

Oper in einem Prolog und zwei Akten
Libretto von Myfanwy Piper nach der gleichnamigen Novelle von Henry James
Musik von Benjamin Britten


in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2h 40' (eine Pause)


Premiere im Theater Hagen am 20. Juni 2021

Logo: Theater Hagen

Theater Hagen
(Homepage)
Tiefschwarze Unbestimmtheiten

Von Stefan Schmöe / Fotos von Klaus Lefebvre (© Theater Hagen)

Die Drehung der Schraube (so in etwa wäre die deutsche Übersetzung des Titels), die Zuspitzung der Dinge bis zur Katastrophe, das hat Benjamin Britten in dieser Grusel-Oper meisterhaft auf den musikalischen Punkt gebracht. Nicht im Sinne eines romantisierenden Illustrationsmusik, sondern mit einer strengen Kompositionstechnik einerseits, die mit klassischen Formprinzipien wie dem Variationsprinzip arbeitet, mit einer schillernden Instrumentation andererseits, die einem im Unklaren lässt, was gut und was böse ist - und das bei einem Kammerorchester von gerade einmal 13 Instrumenten. Ein ideales Corona-Stück, denn da lassen sich auch im Orchestergraben Sicherheitsabstände einhalten, und trotz der kleinen Besetzung ganz große Oper. Und und es inszeniert Jochen Biganzoli, der am Theater Hagen schon Cardillac und Tristan und Isolde höchst eindrucksvoll auf die Bühne gebracht hat.

Vergrößerung in neuem Fenster Die Gouvernante

Zwei Waisenkinder auf einem verlassenen Landgut, denen Gespenster nachstellen; eine junge Gouvernante, die sich dem entgegenstellt und doch das tragische Ende nicht verhindern kann - in der Novelle von Henry James, 1898 erschienen, und auch im Libretto von Myfanwy Piper zu dieser 1954 uraufgeführten Oper bleibt offen, was real ist oder doch vielleicht nur Einbildung der jungen Frau. Ob die Geistererscheinung des längst verstorbenen Dieners Quint eine Chiffre für Kindesmissbrauch an dem Knaben Miles ist, lässt sich auch nicht eindeutig sagen, in der Luft liegt das allemal. Brittens betörende, einschmeichelnde Klänge für die unheimliche Gestalt lassen sich allerdings auch deuten als Zeichen für ein Erwachen der (Homo-)Sexualität, und wenn Quint in dieser Produktion mitunter erscheint wie der erwachsene Miles, dann scheint Biganzoli vor allem diese Interpretation zu verfolgen. Denkbar bleibt aber auch, dass sich alles nur in der Imagination der Gouvernante abspielt, deren eigene unterdrückte Sexualität andeutet. Biganzolis Inszenierung tut gut daran, das Geheimnis nicht erklären zu wollen, sondern bildgewaltig eine adäquate Zeichen- oder besser Bühnensprache dafür zu entwickeln.

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Kinderzeichnungen auf dem Bühnenboden

Dabei verzichten die Ausstatter (Bühne: Wolf Gutjahr, Kostüme: Katharina Weissenborn) fast vollständig auf Naturalismus und setzen auf Abstraktion. Der tiefschwarze Bühnenraum wird allein durch gestaffelte horizontale Leuchtstoffröhren in voller Bühnenbreite gegliedert, die variabel nach oben und unten gefahren werden können. Immer wieder scheinen sie die Gouvernante zu erdrücken, und wenn sie einen Moment lang in leichter Bewegung schwebend so etwas wie einen Sommertag andeuten, sind sie im nächsten Moment wieder eine Bedrohung. Auch die Kostüme sind ganz in schwarz gehalten - mit weißer Unterwäsche für die Kinder und einem Brautschleier für eine nachgestellte Hochzeitszeremonie der beiden - wobei sie zuvor ihre Kleidung und damit ihr Geschlecht getauscht haben. Man kann darin einen Hinweis auf das lesen, was man aktuell als "queere" Sexualität bezeichnen würde; das Bild fügt sich aber auch ohne konkrete Interpretation ein in eine Folge immer wieder irritierender und damit beunruhigender Szenen ein. Biganzoli fängt hervorragend die Stimmung ein und verdichtet diese; die Inszenierung hat durchaus atmosphärische Wirkung. Die Kinderzeichnungen auf dem Bühnenboden (per Video großformatig auf die Rückwand projiziert) bleiben scheinbar harmlos, wecken gleichwohl die Assoziation an vergleichbare Zeichnungen in der Psychotherapie. Nicht alle Überraschungsmomente sollen hier angesprochen werden; aber es gibt durchaus einiges zu sehen, und diese etwas weniger als zwei Stunden (plus Pause) gehören sicher zum Spannendsten, was derzeit auf den Opernbühnen zu erleben ist.

Vergrößerung in neuem Fenster Miles entzieht sich immer mehr der Kontrolle von Mrs. Grose (links) und der Gouvernante

Es wird allerdings auch großartig musiziert. Das Philharmonische Orchester Hagen spielt in Mini-Besetzung ganz groß auf, und ein großes Kompliment gilt der oder dem auf dem Besetzungszettel nicht aufgeführten Pianistin oder Pianisten - aber eigentlich allen Instrumentalist*innen, und natürlich auch dem Dirigenten Joseph Trafton. Die farbige, schillernde, großformatige Interpretation braucht sich vor größeren Häusern sicher nicht zu verstecken. Das gilt auch für die Sänger*innen. Angela Davis als Gouvernante trifft ausgezeichnet einen lyrischen, zu Beginn durchaus "naiven" Ton, hat aber Kraft und Volumen für die Verzweiflungsausbrüche, und sie verkörpert eindrucksvoll die zunehmend aus der Fassung geratende junge Frau, die alle Gewissheiten verliert. Maria Markina ist als Haushälterin Mrs. Goose vielleicht eine Spur zu jugendlich, hat aber einen kraftvollen Sopran, der die Figur durchaus aufwertet. Bravourös singen die beiden Kindersolisten an diesem Abend (Siegfried Berg als Miles und Melissa Droste als Flora), die beide mit bestechender Präsenz, klangvoll und sehr sicher in der gar nicht so einfachen Harmonik. Anton Kuzenok mit geschmeidigem Tenor als Quint und Penny Sofroniadou als klangschöne, durchaus energische Mrs. Jessel sind mehr als ordentliche Geister.

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Die Kinder spielen Hochzeit

Bedauerlich, dass so wenige Zuhörer zu dieser grandiosen Premiere zugelassen waren - die immerhin bejubelten die Aufführung, bei der einem angesichts der fortdauernden Verunsicherung, die das Stück vorführt, eigentlich gar nicht so sehr nach Jubel zumute ist. Das Theater Hagen jedenfalls setzt nach einer weitgehend abgesagten Spielzeit ein ganz starkes Signal: Das kann Oper!


FAZIT

Szenisch wie musikalisch eine tolle Produktion, die unter die Haut geht - gerade weil sie auf Abstraktion setzt.





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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Joseph Trafton

Inszenierung
Jochen Biganzoli

Bühne
Wolf Gutjahr

Kostüme
Katharina Weissenborn

Licht
Hans-Joachim Köster

Dramaturgie
Rebecca Graitl


Philharmonisches
Orchester Hagen


Solisten

* Besetzung der rezensierten Aufführung

Gouvernante
Angela Davis

Miles
* Siegfried Berg /
Benjamin Overbeck
(Solisten des Knabenchores der
Chorakademie Dortmund)

Flora
* Melissa Droste /
Adea Velijaj

Mrs. Grose
Marina Markina

Quint / Prolog
Anton Kuzenok

Miss Jessel
Penny Sofroniadou


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Theater Hagen
(Homepage)




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