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Wir sollten häufiger mal in der U-Bahn tanzen
Von Stefan Schmöe
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Fotos von Matthias Stutte Es wird getanzt. Auch in Krefeld darf das Theaterseine Türen wieder für das Publikum öffnen, und das Ballett des Theaters Krefeld und Mönchengladbach startet mit einem Reigen von Uraufführungen: Ballettchef Robert North und Mitglieder der Compagnie haben unter dem Titel Während wir warten fünf neue Choreographien erstellt. Der Titel des Abends bezieht sich dabei offenbar mehr auf die vom Warten auf eine Theateröffnung geprägten Produktionsprozesse als auf die Inhalte, die keinen Zusammenhang erkennen lassen. Warum indes die etwas verunglückte Frontseite des Programmhefts die alliterierenden Anfangsbuchstaben des Titels "WWW" hervorheben, bleibt schleierhaft - eine (bei diesen Buchstaben nahe liegende) Anspielung auf das "World Wide Web" scheint nicht plausibel. Wie überhaupt nicht alles an diesem durchaus abwechslungsreichen Ballettabend von rund 80 Minuten Dauer (ohne Pause) schlüssig wirkt. Sommerzeit: Ein Mann (Marco A. Calucci) erinnert sich an ein amouröses Abenteuer in seiner Jugend (getanzt von Alessandro Borghesani und Irene van Dijk ) - zurückholen kann er die Zeit freilich nicht
Den Auftakt macht Sommerzeit von Teresa Levrini. Die Italienerin, die seit 2010 dem Ensemble angehört, hat Ennio Morricones Musik zum Film Cinema Paradiso (Regie: Giuseppe Tornatore) ausgewählt und spielt auch ganz konkret auf das Medium Film und das Kino an, indem sie einen altmodischen Filmprojektor an den Bühnenrand stellt. In ihrem Handlungsballett sieht man eine Frau im Doppelbett liegen und einen Mann, der sich von ihr verabschiedet, der danach aber seinen Erinnerungen an eine Jugendliebe nachhängt - offenbar eine flüchtige Urlaubsbekanntschaft, deren Mutter mit Jackie-Kennedy-Brille und Kopftuch freilich energisch eingreift und dem heftigen Flirt ein Ende bereitet. Es bleibt die Erinnerung, dokumentiert in einem kurzer Urlaubsfilm. Levrini beschreibt mit knappen Strichen ein 1960er-Jahre-Szenario, bei dem die nostalgische Hommage an den Film sich auch im ein wenig verklärten Rückblick auf eine vielleicht doch nicht so idyllische Zeit verbindet. Sicher könnte das mit mehr Distanz (und mehr Witz) choreographiert sein, aber Levrini erzählt die kleine Geschichte mit Empathie für die Figuren und mit Souveränität in den Abläufen. Alessandro Borghesani und Irene van Dijk tanzen als junges Paar ausgesprochen charmant, und Marco A. Carlucci zeigt als gealterter Mann sehr schön die Ambivalenz der Gefühle. Kein schlechter Anfang für diesen Ballettabend. Auf der Suche
Es folgt Auf der Suche von Robert North, eine Art Rondo: Vier Tänzerinnen in langen hellen Kleidern und einem Oberteil in den Regenbogenfarben - bei jeder etwas anders angeordnet (Physiker sollten besser wegschauen) - tanzen eine Art Reigen, der dann doch allzu sehr an wallende Bewegungen der Eurythmie erinnert. Die Zwischenteile werden abwechselnd von zwei Paaren bestritten, eines in Rot und später eines in Blau, die Damen offenbar mit dem gleichen Schnittmuster wie die anderen Tänzerinnen, die Herren mit einem schwarzen Hosenbein (was vermutlich mehr nach Harlekin aussieht als von Ausstatter Udo Hesse gedacht). Die Paare tanzen ja ganz hübsch,am Ende fügt sich alles irgendwie zusammen, aber wonach Robert North hier sucht, wird nicht klar. Die Musik kommt von André Parfenov am Flügel, der eine von ihm selbst komponierte Konzertsuite mit dem Titel Ein Tag. Aussichtsreich spielt. Viele Noten, viel Impressionismus, in der Interpretation eher extro- als introvertiert. Was soll man da sagen? Die Choreographie greift dekorativ die Musik auf. Für eine Viertelstunde trägt das, und dann ist auch schon Schluss. Ob North bei seiner Suche etwas gefunden hat? Wohl eher nicht. Quo vadis: Francesco Rovea und Radoslaw Rusiecki
Parfenov spielt in Scott-Joplin-Manier ein Intermezzo, bevor es mit einem kurzen Film mit dem Titel Warum warten wir? von Amelia Seth, seit 2014 als Tänzerin am Haus, weitergeht. Zu Peter Gabriels My Body is a Cage (eigentlich ein Song der kanadischen Band Arcade Fire) sieht man Victoria Hay, Jessica Gillo, Duncan Anderson und Radoslaw Rusiecki an verschiedenen Orten (ein Wald, ein See, ein Park, eine Straße) jeweils in einer Choreographie, in der sie ihren Körpern zu entgleiten scheinen, die Haut abstreifen, mit den Fingern die Arme entlang streifen. Am Ende eilen sie dem Theater zu. Das Ballett als Raum, in dem sich Körper befreien können - das ist die klarste Anti-Corona-Botschaft des Abends, und Amelia Seth beantwortet damit die Frage, die der Titel ihres kurzen Stücks stellt: Wir warten auf Tanz(theater) als Lebensnotwendigkeit. Keine allzu tiefsinnige Botschaft, aber eine sympathische und der Zeit angemessene. Metro 6: Wenn Menschen in der U-Bahn ihren Emotionen freien Lauf lassen ...
Wenn die Worte Quo Vadis fallen, ist allergrößte Skepsis angebracht: Fast immer überspielt die lateinische Floskel gedankliche Leere mit emotionalem Pathos. Leider ist es auch in der kurzen Arbeit von Franceso Rovea und Radoslaw Rusiecki nicht anders, die sie für sich selbst choreographiert haben. Ein Duo, oft synchron, ohne dass die beiden irgendwie an Individualität gewännen. Vom Band kommt eine Opernarie von Vivaldi, zweimal, und das ist ja auch ganz nett anzusehen und sicher sehr anstrengend. Aber warum muss das dramatisch bei Blitz und Donner beginnen? Zwischen den beiden Wiederholungen der Arie spricht Generalintendant Michael Grosse aus dem Off einen Text von Rovea und Rusiecki, ein Gedicht, das natürlich mit "Quo vadis?" betitelt ist. "Und war er das? Der Sinn des Lebens?" wird da bedeutungsschwer gefragt. "Du steigst zur Sonne empor / Vermagst Du sie anzuschauen? /Oder wirst Du wie Ikarus verbrennen?" Vermutlich beides nicht bei solcher Phrasenlyrik fürs Poesiealbum. Das gedanklich überfrachtete Stückchen verliert sich in bedeutungsloser Leere. Metro 6
Den Abschluss bildet Metro 6 von Alessandro Borghesani, seit 2014 Solotänzer in Krefeld und Mönchengladbach. Menschen in der U-Bahn, das ist das Thema der Choreographie zu Songs von Led Zeppelin, Massive Attack, Janis Joplin, Leonard Cohen, Jefferson Airplane und The Doors. Hört sich unspektakulär an, ist aber doch recht raffiniert. Borghesini zeigt, wer diese Menschen sind, die in der Metro 6 vor sich hin dösen - oder wer sie sein könnten, wenn sie denn dürften, wenn sie Entfaltungsräume hätten. Und natürlich darf man sich dabei fragen, wer oder wie man selbst wäre, könnte man im Alltag aus seiner Haut fahren. Flávia Harada, Victoria Hay, Peter Allen, Illya Gorobets, Francesco Rovea und Radoslaw Rusiecki legen kleine Kabinettstückchen hin, mit Witz und liebevoller Ironie und sehr viel Sympathie für die Menschen und ihre Eigenarten. Weil sich die Choreographie leicht nimmt, bekommt sie Gewicht. Ein schöner Abschluss des Abends.
Nicht alles glänzt an diesem Abend, der trotzdem unterhaltsam ist und mit Sommerzeit und vor allem Metro 6 zwei interessante Choreographien auf dem Programm hat. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Bühne und Kostüme
Choreographieassistenz Sommerzeit
Choreographie Tänzerinnen und Tänzer
Der Mann
Die Geliebte
Der Mann in jungen Jahren
Seine erste Liebe
Die Mutter
Schulfreundinnen
Mädchen mit Obstkorb
Auf der Suche
Choreographie
Klavier Tänzerinnen und TänzerIrene van DijkTeresa Levrini Chantal Hinden Julianne Cederstam Alice Franchini Polina Petkova Alessandro Borghesani Marco A. Carlucci Warum warten wir?
Choreographie und
Choreographie und
Assistenz und Tänzerinnen und TänzerVictoria HayJessica Gillo Duncan Anderson Radoslaw Rusiecki Quo vadis
Choreographie Tänzerinnen und TänzerFrancesco RoveaRadoslaw Rusiecki Metro 6
Choreographie Tänzerinnen und TänzerFlávia HaradaVictoria Hay Peter Allen Illya Gorobets Francesco Rovea Radoslaw Rusiecki
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