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Gefangen im Container
Während die meisten Bühnen in Nordrhein-Westfalen aufgrund der sinkenden
Inzidenzwerte jetzt doch noch relativ kurzfristig vor der Sommerpause die
Pforten für das Publikum öffnen, hat man sich in Wuppertal bereits vor einiger
Zeit dazu entschieden, in dieser Spielzeit keine Aufführungen mehr mit
Zuschauer*innen anzusetzen. Dennoch brannte ein Projekt besonders unter den
Nägeln, das eigentlich schon in der vergangenen Spielzeit herauskommen sollte:
Luigi Nonos Opernerstling Intolleranza. Anlässlich der Feierlichkeiten zu
Friedrich Engels' 200. Geburtstag wollte die Oper dieses Werk
präsentieren, das zur Zeit seiner Entstehung 1960 verschiedene Erfahrungen mit
Intoleranz und Unterdrückung anprangerte, und damit Parallelen zum
Schaffen des berühmten Wuppertalers aufzeigen. Die Corona-Pandemie verhinderte
eine Aufführung im Jubiläumsjahr 2020, und so hat man sich nun ein Jahr später
entschieden, diese Produktion zumindest aufzunehmen und digital im Netz zur
Verfügung zu stellen. Die Online-Premiere wird am Freitag, dem 18. Juni 2021, um
19.30 Uhr als Stream zu erleben sein. Der Vorverkauf endet eine Stunde vor
Beginn. Ab der
gebuchten Uhrzeit ist das Video dann für 46 Stunden mit einem personalisierten
Zugang verfügbar. Der Aufzeichnung dieses Streams durften nun
Pressevertreter*innen beiwohnen.
Der Emigrant (Markus Sung-Keun Park) will in
seine Heimat zurück.
Nono schuf dieses Stück für die Biennale in Venedig, wo es am 13. April 1961 im
Teatro La Fenice zur Uraufführung gelangte und direkt zu einem Eklat führte.
Während einer Folterszene wurde die Premiere von Neo-Faschisten gestört, die die
Vorstellung mit den Rufen "Viva la polizia" unterbrachen. Nonos Gegner warfen
ihm ferner vor, mit seinem Stil die italienische Musik zu vergiften. Nono ließ
sich davon nicht beirren und blieb zeit seines Lebens seinem
unkonventionellen Stil treu. Während der Originaltitel Intolleranza 1960
lautet, wobei die Jahreszahl die Zeit der Entstehung angibt, heißt das Stück in
Wuppertal Intolleranza 2021. Erzählt wird die Geschichte eines
Emigranten, der als Gastarbeiter in einem fremden Land schuftet und sich nach
seiner Heimat sehnt. Als er dorthin zurückkehren will, landet er in einer nicht
genehmigten Demonstration und wird verhaftet. Unter der Folter versuchen vier
Polizisten, ein Geständnis von ihm zu erzwingen. Aus dem Gefängnis gelingt ihm
die Flucht mit einem Algerier. Nun ist sein Ziel allerdings nicht mehr die
Heimat, sondern die Freiheit aller Menschen. Dabei trifft er auf eine junge
Frau, die die gleichen Ziele verfolgt wie er. Gemeinsam wollen sie für eine
bessere Welt kämpfen. Doch eine Sintflut macht ihrem Streben ein Ende. Gemeinsam
mit zahlreichen anderen Menschen sterben sie einen qualvollen Tod in den Fluten.
Selbst wenn man in Wuppertal diese Inszenierung vor Publikum gespielt hätte,
hätte man wahrscheinlich nur das Parkett öffnen können, da die Ränge für Teile
des Orchesters und den Chor benötigt werden. Nono schwebte bei seiner
Komposition ein multidimensionaler Raumklang vor, weshalb er das Orchester in
insgesamt vier Gruppen aufteilte. Nur die Streicher und die Harfen sind im
Orchestergraben untergebracht. Die Holzbläser spielen vom Rang und sind
somit hinter dem Publikum untergebracht. Das Blech und das Schlagzeug befinden
sich jeweils als separate Gruppe hinter der Bühne, so dass auch die Solist*innen
wie das Publikum von dem
Orchester gewissermaßen eingekreist werden. Man könnte bei dieser Aufteilung
fast meinen, Nono habe die Corona-Pandemie vorausgesehen. Gleiches gilt auch für
den Chor. Die Choristen rahmen Bühne und Saal ebenfalls ein und sind teilweise
so weit auseinander, dass ihr Gesang schon beinahe solistischen Charakter hat.
Aufgrund der geltenden Abstandsregeln wird das Chorwerk Ruhr allerdings nur über
Lautsprecher eingespielt, während der Opernchor der Wuppertaler Bühnen hinter
der Bühne und auf den Rängen positioniert ist. Ein a capella Chorgesang spannt
den Bogen vom Anfang zum Ende des Stückes. So beginnt der Abend mit einem Gedicht von Angelo Maria Ripellino
("Vivere e stare svegli", zu Deutsch "Leben und wachsam sein") und endet mit
Ausschnitten aus Bertolt Brechts Gedicht "An die Nachgeborenen".
Der Emigrant (Markus Sung-Keun Park) wird
gefoltert.
Das Regie-Team um Dietrich W. Hilsdorf siedelt die Geschichte in einem riesigen
Fleischereibetrieb an, einer Branche, die gerade in der Corona-Pandemie wegen
der katastrophalen Arbeitsbedingungen immer wieder in die Kritik geraten ist.
Schon vor Beginn der Vorstellung sieht man Menschen in weißen Kitteln über die
Bühne huschen. Wenn sich der Vorhang hebt, erkennt man, dass diese Kittel
blutverschmiert sind. Dieter Richter hat einen riesigen, schäbigen Container
entworfen, in dem der Emigrant gemeinsam mit einer Frau sein Leben fristet.
Markus Sung-Keun Park macht als Emigrant mit klagenden Höhen deutlich, wie sehr
er sich ein anderes Leben wünscht. Annette Schönmüller macht ihm als Frau mit
dunklem Mezzosopran Vorwürfe, dass er sie nur benutzt habe und nun verlassen
wolle. Wenn Park aus seinem Leben ausbricht, verlässt er den Container
allerdings nicht. Er scheint, dort in gewisser Weise gefangen zu sein. Auf
seinem Weg gerät er in eine Demonstration, die teilweise vor dem Container und
teils in Projektionen auf der Containerrückwand zu sehen ist. Einige
Demonstranten tragen Schweineköpfe. Die Demonstration wird von vier schwarz
gekleideten Polizisten brutal aufgelöst und der Emigrant gerät in
Gefangenschaft. Mit verzerrten Stimmen erfolgt das Verhör.
Der Emigrant (Markus Sung-Keun Park) schwankt
zwischen der Frau (Annette Schönmüller, Mitte) und seiner Gefährtin (Solen
Mainguené, rechts).
Eindrucksvoll gestaltet dann Andrey Berezin, Tänzer aus dem Pina Bausch
Tanztheater, die Leiden eines gefolterten Menschen, der im Text nur als "Körper"
bezeichnet wird. Geschunden schleift er sich über die Bühne, um anschließend in
einem viel zu engen Spind an der Containerrückwand Schutz zu suchen. Aus dem
Container ist nun ein richtiges Gefängnis geworden, in das der Emigrant
zusammengekettet mit einem Algerier (Simon Stricker) geführt wird. Erst jetzt
gelingt ihm die Flucht, indem die beiden vorne aus dem Container springen. Aber
sie kommen nicht allzu weit, und werden von der Bürokratie, die in großen
Lettern auf die Bühne projiziert wird, gebremst. Dem Emigranten gelingt
scheinbar die Befreiung durch eine Frau (Solen Mainguené), die fortan seine
Gefährtin wird, während der Algerier leblos an der Rampe zurückbleibt. Durch
zwei Fenster im Container sehen der Emigrant und seine Gefährtin die ansteigende
Flut. Doch noch sehen sie darin keine Bedrohung. Die Frau aus dem früheren Leben
des Emigranten kehrt noch einmal in sein Leben zurück. Nun trägt sie ein
schickes Kleid, hat also einen gesellschaftlichen Aufstieg vollzogen. Doch der
Emigrant will nicht noch einmal ihren Verlockungen folgen und schickt sie fort.
Die Flut steigt weiter. Der Chor berichtet, wie Straßen und Brücken von den
Wassermassen zerstört werden. Der Emigrant verlässt den Container. Wohin er
geht, bleibt unklar. Seine Gefährtin bleibt zurück und schreibt einen Brief an
die Nachwelt, während der Vorhang langsam fällt und der Chor verstummt.
FAZIT
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Produktionsteam
Musikalische Leitung Subdirigat
Inszenierung
Bühne Kostüme Video Chor Einstudierung Chorwerk Ruhr
Sinfonieorchester Wuppertal Statisterie der Wuppertaler Bühnen BesetzungEin Emigrant Seine Gefährtin Eine Frau Ein Algerier Ein Gefolterter Ein Körper Polizei Arbeiter, Demonstranten, Gefangene,
Gefolterte, Algerier, Bauern
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- Fine -