Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Eine Schweinerei historischer Dimension
Von Roberto Becker / Fotos von Ruth Walz In Amsterdam wurde die Uraufführung von Alexander Raskatovs jüngster Oper Animal Farm" vollmundig mit " Orwell's masterpiece transformed into a revolutionary opera" angekündigt. Es passt in der Tat programmatisch zum gerade angelaufenen, jüngsten Jahrgang des in diesem Jahr bereits zum siebenten Mal durchgeführten "Opera Forward Festival", das vom 3. bis 12. März neue Wege des Musiktheaters und seiner Rezeption erkundet. Was den Gegenstand selbst betrifft, so liegt das provozierend Revolutionäre des Stoffes wohl schon einige Jahrzehnte zurück. Als die Farm der Tiere erschien, hatte sich gerade jene Koalition der Westmächte mit der Sowjetunion Stalins beim Sieg über Nazi-Deutschland gebildet, die eine Fundamentalkritik am Verbündeten im Kreml nicht gerade opportun erscheinen ließ. Aber sowohl George Orwells parabelhafte Übersetzung der Entstehung und inneren Logik von Stalins Herrschaft in eine Tierfabel als auch jedes gespenstisch hellsichtige 1948 folgende Roman 1984 haben nicht nur literarischen Kultstatus, sondern liefern auch erschreckend brauchbare Stichworte zur Analyse der Gegenwart. Der Vormarsch von Autokratien verschiedenster Couleur nach dem voreilig verkündeten Ende der Geschichte sichert Animal Farm einen vorderen Platz auf der Wiedervorlageliste mit erhellender Lektüre. Das gilt auch für 1984 - da im Hinblick auf eine Analyse der grassierenden Selbstgleichschaltung der Medienlandschaft bei jeder hereinbrechenden Krise wie sie selbst in intakten Demokratien zu verzeichnen ist. Die Schweine wollen die Macht übernehmen
Nachdem Lorin Maazel im Jahr 2005 seine Opernversion von 1984 in London auf die Bühne von Covent Garden gebracht hat, kommt jetzt also in Amsterdam auch Orwells zweiter Volltreffer Animal Farm in Amsterdam zu Opernehren. Wo es im Falle von 1984 durchaus einer erkennbaren Übersetzung des "Großen Bruders" in ein Phänomen der Informationsnutzung und ihres potenziellen und praktizierten Missbrauchs bedurfte, funktioniert die Parabel über den Aufstand der Tiere gegen die Ausbeuter in Menschengestalt direkter, nicht zuletzt weil einzelne konkrete Gesichter unmittelbar der Sowjetelite zuzuordnen sind. Die historischen Beispiele, wie mit hehren Idealen angetretene Weltverbesserer zu Diktatoren werden, sind Legion. Diktatoren lassen sich nicht abwählen und in Rente schicken. Mit ihrem Libretto und dem menschlichen und tierischen Personal bleiben Ian Burton und Alexander Raskatov dicht an der Orwellschen Vorlage. Da gilt auch für die szenische Umsetzung des zweiaktigen Werkes durch Damiano Michieletto (Regie), Paolo Fantin (Bühne) und Klaus Bruns (Kostüme). Die Optik der Bühne wird von Käfigen bestimmt, die des tierischen Personals durch Tiermasken. Misha Kiria kriegt es sogar hin, als Napoleon, also als der Kamerad Oberstes Schwein, bei seiner Anverwandlung an den Habitus der einst verjagten Menschen, den von Stalin nachzuahmen. Das siebente Gebot des Animalismus
In dem Bühnen-Schlachthaus mit den Käfigen werden die Glaubenssätze des Animalismus zuerst an die Wand geschrieben und nach der Errichtung der Diktatur der Schweine "modifiziert". So wird aus dem sechsten Gebot "Kein Tier soll ein anderes Tier töten" durch den Zusatz "ohne Grund" das genaue Gegenteil. Der Gipfel ist dann das siebente Gebot "Alle Tiere sind gleich", das mit dem Zusatz, "manche sind gleicher" sogar als geflügeltes Wort in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist. Historisch gesehen war diese parabelhafte Enthüllung der Verwandlung eines revolutionären Freiheitspathos in eine Diktatur, die alles in den Schatten stellte, im Jahre 1945, als die Alliierten zusammen mit Stalin gegen Hitler kämpften, ein starkes Statement, mit dem sich der einstige Sozialist Orwell gegen den herrschenden Zeitgeist stellte. Diesen Bonus hat die Geschichte (seit Chrustschows Geheimrede vor dem zwanzigsten Parteitag 1956) zwar nicht mehr, aber sie gewinnt angesichts der Stalinrenaissance, die Putin vorantreibt, wieder an Brisanz. Und der Mechanismus, mit dem die Schweine in der Farm die Macht übernehmen, langsam ihre Prinzipien modifizieren bzw. verraten, alte Mitstreiter ausschalten und selbst schlimmer werden als die, die sie vertrieben haben, ist zwar mittlerweile längst gut bekannt, passiert aber immer wieder von neuem. Käfige sind der Normalzustand für die Tiere
Die Musik Raskatows ist von vielen Vertretern der gemäßigten Moderne inspiriert, dient aber vor allem dazu, den Text plastisch und die Bilderfolge, mit der die Geschichte erzählt wird, gut nachvollziehbar zu machen. Bei den Menschen grotesk überzeichnet. Bei dem Eber, der die theoretischen Grundlagen für die Revolution schafft, dominiert würdiges Parlando. Die verschiedenen Tiere selbst haben ihre eigene Instrumentierung und Farbe, ihre Interpreten ahmen sogar tierische Lautmalerei nach. Aber es gibt auch aufgeregte Koloraturen oder Melodiesatiere. Roskatov lässt das Personal nach der Machtübernahme in kurzen Sequenzen auch hymnisch jubeln.
Gesungen - bzw. gequiekt oder gekreischt - wird in Amsterdam auf virtuosem Niveau. Das fängt an bei dem profunden Bass, mit dem Gennady Bezzubenkov die Würde des alten Ebers mit dem Namen Old Major verkörpert. Als seine Nachfolger übernehmen drei ehrgeizige Schweine dessen Rolle und entwickeln jenen Animalismus mit seinen sieben Geboten. Misha Kiria ist der Eber Napoleon, der unschwer als tierisches Alter Ego Stalins zu erkennen ist. Auch Michael Gniffke ist als Schwein Schneeball die Entsprechung von Trotzki. Noch jeder Autokrat braucht so einen Gegenspieler als Feindbild. Das ist auch heute noch so. Für den Ungarn Victor Orban ist es George Soros, für den Türken Erdogan Fethullah Gülen. Heute nicht mehr so leicht zu identifizieren ist der von James Kryshak verkörperte Squealer (sprich Kreischer oder Schwatzwutz) als Molotov. Im umfangreichen Personaltableau profilieren sich Germán Olvera als Pferd Boxer, Helena Rasker als Mutterstute Clover (Kleeblatt), Holly Flack als hübsche, weiße Stute Mollie, der Counter Karl Laquit als Esel Benjamin und Elena Vassilieva als schwarzer Rabe Blacky. Das Ensemble ist insgesamt fabelhaft und bewältigt den Wechsel zwischen menschlichem Parlando, tierischer Lautmalerei und aggressiv forcierten, grenzgängerischen vokalen Ausbrüchen. Der aufstrebende Dirigent Bassem Akiki, der gerade in Brüssel die Uraufführung der letzten Boesmans-Oper dirigiert hat, hat das Netherlands Chamber Orchestra souverän im Griff, beim ständigen Wechsel der Effekte und des Parlandos verschiedener emotionaler Tonlagen. FAZITAn der Oper in Amsterdam wurde mit Animal Farm eine ambitionierte Opernnovität gefeiert. Trotz der Perfektion ihrer Umsetzung umweht die Geschichte heute gleichwohl auch eine gewisse Patina. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Licht
Choreographie
Chor
Dramaturgie
Sänger
Old Major
Napoleon
Snowball
Squealer
Boxer
Benjamin
Minimus
Clover
Muriel
Blacky
Mollie
Pigetta (young actress)
Mr. Jones
Mrs. Jones
Mr. Pilkington
2 men of Mr. Jones
2 men of Mr. Pilkington
2 men from veterinary car
|
© 2023 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de