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Hinter den Fassaden
Von Roberto Becker
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Fotos Bernd Uhlig Dass die große russische Oper ganz selbstverständlich zum Repertoire gehört, ist eine der Gewissheiten, die sich neuerdings eben doch nicht als in Stein gemeißelt erweisen. Heute kann ein Intendant bei einer entsprechenden Programmentscheidung schnell in Erklärungsnot gebracht werden. Zumindest, wenn man auf jeden Tweet eines übereifrigen Botschafters reagiert. Diverse Programmänderungen an dem einen oder anderen westeuropäischen Opernhaus zeugen davon. Dabei wurden schon Jahre vor dem russischen Überfall auf die Ukraine in Russland Forderungen nach einem Rückzug auf "traditionelle russische Werte" dekretiert, wirklich moderne Kunst im Grunde für überflüssig, Schwule als verdächtig und überhaupt die westliche Freiheit zur Dekadenz erklärt. Seit diesem Februar wird das von Kanonendonner und von orthodoxem Kirchengeläut begleitet. Schon allein, um diesem kulturfeindlichen Unsinn nicht mit gleicher Münze Widerstand entgegen zu setzen, ist es richtig, die 1890 uraufgeführte Piqué dame des ob seiner Homosexualität in die Enge, ja in den Tod getriebenen Komponisten Peter Tschaikowski (1840-1893) im Westen auf die Bühne zu bringen. Ein Flügel bildet den Rahmen der Inszenierung
Hinzukommt, dass Tschaikowski selbst Piqué Dame für sein Meisterwerk hielt. Also wohl seinen Hermann als Opernfigur zumindest genauso schätzte wie den (heute auf den Bühnen deutlich populäreren) anderen Lebensverlierer Eugen Onegin. Wobei sich schwerlich Sympathien für diesen Spieler aufbringen lassen, der es auf die schöne Lisa abgesehen hat, die ja längst die Braut des Fürsten Jeletzki ist. Um sein Ziel zu erreichen, ist ihm jedes Mittel recht. Er will der alten Gräfin, die die drei Karten kennen soll, die immer gewinnen, ihr Geheimnis abringen, wozu er sie so attackiert, dass sie stirbt. Hermann hat sich so stark in diese fixe Idee hineingesteigert, dass ihm die Tote im Traum erscheint und ihm die drei Karten verrät. Allerdings sind nur zwei die richtigen. Herrmann hat nur das Spielen im Sinn
In Brüssel evozieren Bühne und Kostüme eine postsowjetische Tristesse, kommen dabei aber ohne Versatzstücke der dazugehörigen Folklore aus. Nicht aber ohne einige Alkoholiker, die sich ihren "Stoff" aus diversen Resten selbst mixen. Die Bühne ist zunächst eine Bühne auf der Bühne, blaue Vorhänge umgeben einen Konzertflügel mit Pianisten. Der Kinderchor, der gegen die Feinde Russlands Stimmung macht und die Zarin hochleben lässt, kann so in ein Kofferradio verbannt werden, das auf dem Flügel platziert wird, und vom drumherum platzierten Chor kann sich jeder die Ohren zuhalten, was insgesamt ein geschickt eingefügter Kommentar zur Lage ist. Dann aber dominieren zwei Plattenbauruinen, die Christian Friedländer gebaut hat und die separat bewegt werden können. Eine Skulptur urbaner Erinnerung. Die freilich irgendwie bewohnt wird, obwohl auf der Rückseite die vervollständigenden Zimmerwände fehlen. Pola Kardum hat die Bewohner mit einem Siebzigerjahre-Secondhand-Look ausstaffiert. Vor und zwischen den Fassaden befinden sich Beton-Sitzbänke, die für manche wohl zugleich ihre Wohnung sind. Ein alter Mann hat hier vielleicht sogar die Partitur vor sich. Wie weit man darin Verweise auf den Komponisten sehen mag, bleibt jedem selbst überlassen. Der Pianist ist - laut Programmheftauskunft des Regisseurs - eine Hommage an seinen alten Klavierlehrer in Budapest, Ferenc Rados. Man könnte aber auch ihn für den Wiedergänger eines Komponisten halten, der seine eigene Lebenstragödie in eine selbst erschaffene Welt transformieren wollte. Wie dem auch sei. Urbaner Raum, stilisiert
Auf jeden Fall ist das Leben als Erinnerung in der Figur der alten (in ihrer Jugend als "Venus von Moskau" gefeierten) Gräfin personifiziert. Anne-Sofie von Otter glänzt im melancholischen Gegenlicht eines nahenden Todes in der Parade-Altersrolle für die Großen der Branche. (Martha Mödl hat damit noch mit über 80 in Wien Lorbeeren geerntet und Anja Silja durfte ihre sagenhafte Präsenz im gleichen Haus im Ornat der Zarin testen!) Regisseur David Marton lässt von Otter in dieser Szene ganz in sich und ihre Erinnerungen an vergangene, bessere Zeiten versunken über die Bühne schreiten. Man sieht den alten Glanz nicht, aber man hört und ahnt ihn. Wenn ihr ein Kind eine Krone aus dem Papierkorb aufsetzt, spielen alle dieses Spiel mit. Das ist einer der berührendsten Momente des Abends. Wenn die Gräfin von ihren Erfolgen am französischen Hofe berichtet, verändert sich der Raum und die urbane Halbruine verschwindet hinter einer großgemusterten Tapete. Auch mit dem Schäferzwischenspiel bricht eine andere, bunte Wirklichkeit gleichsam surrealer Figuren in die Tristesse der Bühnenarchitektur ein. Lisa, allein
Nathalie Stutzman, die sich nach ihrer Sängerkarriere inzwischen als Dirigentin etabliert hat, entlockt dem Orchester der Oper La Monnaie großen, dramatisch tragischen Ton, den Tschaikowski dazu komponiert hat. Das geht ziemlich in die Vollen, sie lässt aber hin und wieder auch erstaunlich viel Mozart durchscheinen. Das verlangt den Interpreten eine veritable Kraftanstrengung ab, die sie durchweg mit Bravour bewältigen. Jacques Imbrailoin hält sich mit seinem an Gremin erinnernden Pathos als um Lisa werbender Fürst Jeletski kein bisschen zurück. Unter den vielen Protagonisten profiliert Charlotte Hellekant die Polina ebenso wahrnehmbar wie Laurent Naouri den Grafen Tomski. Im Zentrum glänzen freilich die leidenschaftlich aufstrahlende Anna Nechaeva als Lisa und Dmitry Golovnin als - letztlich vor allem dem Spiel rettungslos verfallener - Hermann. Am Ende sind die Gräfin, Hermann und Lisa tot. Die tristen Häuserreste verschwinden wieder hinter den Vorhängen. Der Alte, der immer mitgelesen hatte, geht zum Pianisten und erteilt ihm Ratschläge ... FAZIT Die musikalische Seite dieser Brüssler Produktion ist packend, gesungen wird durchweg auf hohem Niveau. Der herausfordernd anspruchsvollen Inszenierung gelingt es, auch die Gegenwart aufscheinen zu lassen, ohne dabei platt zu werden. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Licht
Video
Chor
Dramaturgie
Solisten
Hermann
Graf Tomsk/Zlatogor
Fürst Jeletsky
Gräfin
Lisa
Polina/ Milovzor
Chekalinsky
Surin
Chapitsky/ Zeremonienmeister
Narumov
Gouvernante
Masha/ Prilepa
Pianist auf der Bühne
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