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Coppélia X machina

Ballett von Hélène Blackburn
Musik von Ana Sokolović

Aufführungsdauer: ca. 1h 45' (eine Pause)

Premiere am 21. Januar 2023 im Opernhaus Düsseldorf


Homepage

Ballett am Rhein / Rheinoper
(Homepage)
Roboter bevorzugen den Spitzentanz

Von Stefan Schmöe / Fotos von Ingo Schäfer

Coppélia - das ist die lebensechte Puppe, besser: der Automat oder Roboter, der für einen lebendigen Menschen gehalten wird. In die Welt gesetzt wurde die Geschichte, auf die sich die meisten Adaptionen beziehen, 1816 von E.T.A. Hoffmann in der Erzählung Der Sandmann, da hieß das Automaten-Wesen noch "Olimpia" wie später auch in Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen. Als "Coppélia" ist sie durch die Version von Léo Delibes nach einem Libretto von Charles Nuitter und Arthur Saint-Léon (uraufgeführt 1870), bis heute eines der meistgespielten Werke, in die Ballettgeschichte eingegangen, vor allem durch die Choreographien von Marius Petipa und Georges Balanchine - dort freilich als recht harmlose Liebesgeschichte unter Menschen, die durch die Puppe kurzzeitig gefährdet wird. Dabei ist der Stoff brisant wie nie: Parallel zur Entstehung dieser neuen (weder das Libretto noch die Musik des Balletts von Delibes aufgreifenden) Düsseldorfer Version des Stoffes mit dem Titel Coppélia X machina sind erstmals Systeme von künstlicher Intelligenz für die breite Masse verfügbar geworden, am prominentesten wohl "ChatGPT" - eine Software, die wie im Smartphone-Chat komplexe Fragen beantwortet. Es lohnt sich durchaus, sich mit diesem System beispielsweise über die Rezeptionsgeschichte von Coppélia zu "unterhalten" (hier der Link zum Programm). Derzeit irrt ChatGPT noch vergleichsweise oft und ein Faktencheck ist unverzichtbar. Gleichwohl: Die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Maschine und den Konsequenzen für unser Leben stellt sich gerade mit ungeheurer Brisanz.

Vergrößerung Eine Puppe ist vom Himmel gefallen; kann sie lebendig werden? Das ist die zentrale Frage des Abends.

In Düsseldorf beschäftigt sich nun die Kanadierin Hélène Blackburn, Leiterin der 1989 von ihr selbst in Quebec gegründeten Compagnie Cas Public, mit dem Thema. Für das Ballett am Rhein hat sie bereits choleric als Beitrag zum Ballettabend Vier neue Temperamente (unsere Rezension) choreographiert. Aufträge zu einem bestimmten Stoff lehne sie normalerweise ab, gibt sie im Programmheft an; mit dem Coppélia-Sujet habe sie sich aber ohnehin seit vier Jahren beschäftigt - und dann das Angebot aus Düsseldorf doch angenommen. So ist ein (gerade eben) abendfüllendes Ballett mit Orchester entstanden, mit Musik der 1968 in Serbien geborenen, heute in Kanada lebendenden Komponistin Ana Sokolović. Die oft starren Rhythmen stellen in weiten Teilen eine Art "Maschinenmusik" dar, durchbrochen immer wieder von traumwandlerisch entrückten Passagen. Formal ist das vergleichsweise konventionell in Nummern gegliedert, was auf Delibes & Co. anspielt. Die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Patrick Francis Chestnut spielen mit enormer Energie und Farbigkeit und loten die Facetten dieser dem ersten Höreindruck nach nicht übermäßig originellen, gleichwohl interessanten und in ihren gegensätzlichen Ausdrucksformen zwischen pulsierender Kraft und verinnerlichter Poesie allemal tanztauglichen Komposition aus.

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Roboter-Mensch (Miquel Martínez Pedro)

Nun will Coppélia X machina kein Handlungsballett sein, vielmehr, so weiß das Programmheft, "…spielt [die Interpretation] mit Referenzen und reduziert die Geschichte zu einem offenen Narrativ." Diese Unbestimmtheit ist Stärke und Schwäche zugleich. Der Besetzungszettel weist drei Solopartien aus, die mit "Sie" (Wun Sze Chan), "Er" (Orazio Di Bella) und "Der Macher" (Niklas Jendrics) bezeichnet sind. Die ersten beiden kann man wohl mit Puppe und menschlichem Liebhaber identifizieren, was im Durcheinander auf der Bühne, wo es zwischenzeitlich mehrere Paare gibt, nicht immer leicht ist. Einfacher zu erkennen ist der "Macher", wobei diese Figur von der Konzeption her problematisch angelegt ist: Der geniale Erfinder ist eine in der Romantik verhaftete Idee, die in der zunehmend von selbstlernenden Computerprogrammen kein echtes Pendant mehr hat; die Figur bleibt dementsprechend unscharf und wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, das eigentlich keine Funktion mehr hat.

Vergrößerung Sind das nun Roboter oder Menschen? Das bleibt einigermaßen offen. (Ensemble)

Bei Hélène Blackburn tanzen eigentlich alle wie Maschinen: Die sehr genau durchgestalteten, meist eckigen Bewegungen sind abgehackt, die Haltung von Beinen und Armen betont oft starre Winkel, die Geschwindigkeit ist hoch und beginnt und endet abrupt. Bewegungsfolgen, die immer wieder vertraute Elemente des klassischen Repertoires aufgreifen, laufen mit der Präzision eines maschinengesteuerten Algorithmus ab - die Compagnie tanzt das großartig (allein bei synchronen Abläufen mehrerer Tänzer*innen "klappert" es mitunter). Der erste Teil "spielt", analog zu Delibes' Coppélia, auf einem "öffentlichen Platz", der hier der Menschenwelt entspricht, aber die Menschen sind selbst Maschinen; im zweiten Teil (bei Delibes "in der Werkstatt von Coppelius", hier in der Welt der Roboter) geht es kaum anders zu - bis auf das Schuhwerk: Den hochhackigen Schuhen mit breitem Absatz, die man im ersten Teil unabhängig vom Geschlecht trägt (und die natürlich die technischen Möglichkeiten einschränken) steht jetzt der Ballettschuh gegenüber: Roboter haben offensichtlich eine Vorliebe für den Tanz auf Spitze. Warum indes im rätselhaften Finale das Ensemble, nach weißer Freizeitkleidung im ersten Teil nach der Pause in mittelmäßig attraktive netzartige, irgendwie futuristisch anmutende Leibchen gehüllt, auf Socken daherkommt, was durch dramatisches Streiflicht nur in Fußhöhe noch betont wird, erschließt sich nicht. Oder findet eben diese Ungewissheit - wo wird die Grenze zwischen Mensch und Roboter sein? - hier ihren visuellen Ausdruck? Das Ensemble bildet, mit dem Rücken zum Publikum, eine Wand, hinter der das Paar verschwindet. Irgendwo im Programmheft findet sich der Hinweis auf den Tod des Protagonisten, aber auch das bleibt in dieser Szene unklar. Freilich stellt sich auch die Frage nach dem Tod neu, wenn Mensch und Maschine immer mehr verschmelzen.

Vergrößerung

Pas de deux mit Mensch und Maschine? (Wun Sze Chan und Orazio Di Bella)

Blackburn und ihrem Team (Ausstattung: Paul Zoller, Licht: Emmanuel Landry) gelingen eine Reihe eindrucksvoller Bilder, beginnend damit, dass eine Puppe vom Bühnenhimmel fällt (da noch aus Stoff), die später vom Ensemble vergeblich animiert wird (es wird grandios getanzt, wie sich das Wesen ohne jede Körperspannung im denkbar größten Kontrast zu den streng durchstrukturierten Bewegungen aller anderen verhält). Der Beginn des zweiten Teils in der Cyber-Welt wird eingeleitet durch eine beeindruckende Nummer mit Tänzern auf Stelzen, was an Industrieroboter erinnert. Immer wieder wird die Szenerie faszinierend ausgeleuchtet, wodurch die Choreographie oft eine skulpturale Qualität erhält. Mitreißenden Schwung hat sie ohnehin. Der Blick auf die Technik ist darin ein durchweg neugieriger, kein ängstlicher. Aber sie kann sich nicht recht entscheiden, wie viel Geschichte sie erzählen möchte, und die Fährten, die sich vor allem im Programmheft finden, verlaufen sich auf der Bühne allzu vage. Ungeachtet dessen: Vom Premierenpublikum gab es viel Beifall.


FAZIT

Hélène Blackburn hat ein spannendes Ballett mit großen Momenten und starken Bildern geschaffen, das die Grenzen zwischen Mensch und Maschine effektvoll verschwimmen lässt. In der Balance zwischen Handlungsballett und Abstraktion dagegen findet sie allerdings nicht das rechte Gleichgewicht.


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Produktionsteam

Choreographie
Hélène Blackburn

Musikalische Leitung
Patrick Francis Chestnut

Bühne und Kostüme
Paul Zoller

Licht
Emmanuel Landry

Choreographische Assistenz
Ermanno Sbazzo

Dramaturgie
Carmen Kovacs



Düsseldorfer Symphoniker


Tänzerinnen und Tänzer

Sie
Wun Sze Chan

Er
Orazio Di Bella

Der Macher
Niklas Jendrics

Ensemble
Camilla Agraso
Paula Alves
Marta Andreitsiv
Doris Becker
Daniele Bonelli
Jack Bruce
Yoav Bosidan
Orazio Di Bella
Sara Giovanelli
Evan L'Hirondelle
Lotte James
Pedro Maricato
Miquel Martínez Pedro
Simone Messmer
Geivison Moreira
Neshama Nashman
Clara Nougué-Cazenave
Rose Nougué-Cazenave
Marié Shimada
Courtney Skalnik
Kauan Soares
Edvin Somai
Andrea Tozza
Eric White






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