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Menschheitsdämmerungsgezappel
Von Stefan Schmöe / Fotos von Bettina Stöß
Es ist eine eigentümliche Geburt, mit der Jerome Robbins Ballett The Cage aus dem Jahr 1951 beginnt. Eine Geburt wie bei Tieren, ohne große mütterliche Empathie. Überhaupt wirken die Tänzerinnen - die Gruppe besteht ausschließlich aus Frauen - wie große Insekten, wie Heuschrecken. Es wird viel auf Spitze getanzt, aber mit gekrümmten Beinen, gespreizten Armen und abgewinkelten Händen, und mit manchmal grotesk überstreckten Körpern. Robbins widersetzt sich der Eleganz des klassischen Spitzentanzes und auch dem Schönheitsideal eines Georges Balanchine. Auch irritiert die Handlung: Die Frau, die eben geboren wurde (die "Novizin"), wird im nächsten Moment einen Mann töten, der das Revier betritt und sie zunächst wegträgt, aber schnell unterliegt. Dem zweiten Mann, der erscheint, begegnet sie auf Augenhöhe, es entwickelt sich ein fast konventionell anmutender pas de deux. Sie lässt ihn zunächst leben - bis die Gruppe sie auffordert, auch ihn umzubringen. Vorhang.
Robbins hat die Szene mit beeindruckender Konsequenz choreographiert. Futaba Ishizaki tanzt die emotionslos mordende Novizin mit unterkühltem Charme und im Gegensatz zu den anderen Frauen (die von Statur und Aussehen quasi gleich sind) mit einer individuellen, modernen Frisur, wie sie überhaupt als einzige eine Individualität entwickelt. Die von Svetlana Bednenko mit maßvoller Präsenz getanzte "Königin", Anführerin der Gruppe, bleibt dagegen eine Funktionsträgerin. Kauan Soares, der erste Eindringling (sein Auftritt mit der zum Scheitern verurteilten Eroberungsgeste wirkt unfreiwillig ein wenig komisch) wird schnell beseitigt, Gustavo Carvalho strahlt als muskulöser zweiter Eindringling imponierende Ruhe und Souveränität aus. Mit der archaischen Stimmung und der provokanten und radikalen Umkehr der Geschlechterrollen - wo im Ballett sieht man schon so Tarantino-mäßig dominante Frauen? - hinterfragt The Cage weniger die Geschlechterrollen als vielmehr die Grundregeln unseres Zusammenlebens mit ihrer permanenten Gewalt an sich. Das hat auch über 70 Jahre nach der Uraufführung noch verstörende Kraft. Wenn nach dem etwa 20 Minuten kurzen Werk schon Pause ist, hat man so einiges zu verarbeiten. The Cage: Gustavo Carvalho, Futaba Ishizaki Die Musik Strawinskys (das Concerto in d für Streichorchester) tritt gegenüber dem aktionsreichen Geschehen auf der Bühne in den Hintergrund. Das ändert sich bei Demis Volpis The thing with feathers grundlegend. Hier geben die Metamorphosen für 23 Solostreicher von Richard Strauss auch inhaltlich das Thema vor: Die immerwährende Veränderung - mit der Konsequenz, dass nichts Bestand hat. Volpi choreographiert in großen, sanft schwingenden Bewegungen eine Folge miniaturisierter Szenen, die fließend ineinander übergehen und kaum greifbar sind in ihrer Flüchtigkeit. Getanzt wird in ein wenig artifizieller heutiger Alltagskleidung (Kostüme: Thomas Lempertz), wobei der Spitzenschuh nur ganz kurz in Erscheinung tritt. Soli wechseln sich mit Duos, Trios und kleinen Gruppenszenen ab, und immer wieder kann es vorkommen, dass ein Tänzer, der eben noch eine Partnerin im Arm hielt, plötzlich allein dasteht. Es dreht sich also viel um Verlust und Neuanfang. Der Titel des Stücks geht zurück auf ein Gedicht von Emily Dickinson: Hope is the Thing with Feathers. Auch wenn Volpi nicht die aphoristische Präzision etwa eines Hans van Manen erreicht, so hat das Stück mit seiner melancholisch grundierten Leichtigkeit viel Charme. Die Düsseldorfer Symphoniker spielen unter der Leitung von Vitali Alekseenok mit eindringlicher Intensität und ausgezeichneter Ausgewogenheit zwischen den solistischen Stimmen und einem orchestralen Gesamtklang (dieses hohe Niveau wird bei den beiden Werken Strawinskys nicht ganz erreicht).
Recht konstruiert wirkt der Zusammenhang zu den anderen beiden Werken des Abends, der thematisch unter dem Thema "Opfer" steht - was bei Robbins durch die Tötung der Eindringlinge noch leidlich nachvollziehbar ist, bei Volpi aber gedanklicher Umwege bedarf. Strauss hat die Metamorphosen 1945 unter dem Eindruck der kriegszerstörten Städte in Deutschland als ergreifende Trauermusik komponiert. In dieser Zerstörung ein "Opfer" zu erkennen, wie die Begleittexte das suggerieren, fällt allerdings nicht leicht. So bildet eher das Moment der Zerstörung und des Todes die Klammer über den Abend, was bei Volpi nur über die Musik hineinspielt. Mit dem gedanklichen Überbau über den Abend hat der Düsseldorfer Ballettchef sich und dem Publikum nicht unbedingt einen Gefallen getan - auch wenn das letzte Stück das Opfer schon im Namen trägt: Le sacre du printemps (Das Frühlingsopfer) in einer hier zur Uraufführung gebrachten Choreographie des Spaniers Marcos Morau (* 1982) als zentralem Stück. Die anderen beiden Werke des Abends sollen sich darauf beziehen, und immerhin führen von The Cage tatsächlich manche Leitlinien dorthin, vom Komponisten angefangen bis zum Motiv des Tötens durch die Gruppe. Als Medium für einen intellektuellen Diskurs eignet sich Der Tanz als Genre aber nur begrenzt. Le sacre du printemps: Der Blick in den Abgrund
Morau und Dramaturg Roberto Fratini Serafide legen bereits im Programmheft mächtig los mit einem wortgewaltigen Beitrag, der unsere Gesellschaft arg pathetisch als eine untergehende bar jeder Hoffnung beschreibt. Auch und gerade angesichts der Klimakrise dürfte es da etwas bedachter zugehen als in diesem Weltuntergangsszenario barocken Ausmaßes. Nun ist das Programmheft aber nicht die Bühne. Da zeigt Morau im Halbdunkel eine Gruppe verstörter Menschen vor einem Felshang, und sie wirken wie eine Horde hospitalisierter Affen, die zappeln und zucken, was tänzerisch eher uninteressant ist und sich ziemlich schnell erschöpft. Die Bewegungen sind abgehackt und oft in der ganzen Gruppe synchron und haben kaum noch etwas Menschliches. Diese Gesellschaft hat offenbar die Fähigkeit, Opfer zu bringen, verloren. Das muss man wohl vor allem so verstehen, dass ein Verständnis für Endlichkeit und den Tod verloren gegangen ist (im Menschenopfer, so die Logik, ist diese Verbindung in zugespitzter Form gegeben). Der Clou dieser Choreographie des Frühlingsopfers besteht also darin, gar kein Opfer zu zeigen (Frühling sowieso nicht). Morau möchte die Diskussion um das einstige Skandalstück Le sacre du printemps ein für alle Mal beenden: Schluss mit Menschenopfern, weil wir sowieso jeden Bezug zur Natur wie zur Transzendenz verloren haben.
Zu den Schlusstakten stürzen sich die Akteure, die unter den zwischen schwarz, grau und weiß changierenden Fantasiekleidern bunt gemusterte Trikots wie Radfahrer*innen tragen, hinunter in den Abgrund hinter dem Felsen, manche freiwillig, andere mit sanfter Unterstützung der Artgenossen. Das ist kein Opfer (mit dem ja die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verbunden wäre), sondern kollektiver Selbstmord. Strawinskys kraftvolle Musik rettet die reißerische und plakative, im Grunde aber nichtssagende und im Hinblick auf ihren tänzerischen Gehalt langweilige Choreographie halbwegs. Warum sie vom Premierenpublikum johlend bejubelt und mit stehenden Ovationen gefeiert wurde, will sich mir nicht so recht erschließen.
Ein Abend mit disparaten Eindrücken: Über Marcos Moraus dystopische Version von Le sacre du printemps gehen die Meinungen ganz offensichtlich auseinander - ich kann mit dem reichlich oberflächlichen Blick auf den Untergang der Menschheit wenig anfangen. Robbins' The Cage beeindruckt mit seiner radikalen Konsequenz, und Demis Volpi hat mit The thing with feathers ein schönes, gerade im Gegensatz zu Moraus laut polterndem sacre sanftes Ballett mit leisen Zwischentönen geschaffen. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung The Cage
Choreographie
Bühne
Kostüme
Licht Uraufführung:
The Queen
The Novice
The Intrudors
The Group
Choreographie und Bühne
Kostüme
Licht Uraufführung
Choreographie
Bühne
Kostüme
Licht
Dramaturgie Uraufführung
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