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Beziehungsfragen, kurzgefasst
Von Stefan Schmöe / Fotos von Bernhard Weis
Drei Frauen und ein Mann: Das ergibt für Hans van Manen in seiner 1995 für das Nederlands Dans Theater geschaffene Choreographie Short Cut drei pas de deux. Oder einen pas de deux in drei Variationen. Man kann eine kleine, große Geschichte darin erkennen: Drei Liebesbeziehungen mit ihren Wechselfällen, getanzt zur melancholischen Musik, zwei langsame Sätze aus Streichquartetten des niederländischen Komponisten Jacob ter Veldhuis (*1951), die wie alle Musik an diesem Abend vom Band zugespielt wird. Die auftretenden Personen tragen schulter- und armfreie Ganzkörpertrikots und Ballettschlappen, der Mann in schwarz, die Damen (vom Körperbau sehr ähnlich, alle mit derselben strengen Figur - eine Wendung vom Individuellen zum Allgemeingültigen) in weiß, gelb und rot.
Auf dunkler Bühne gehört der erste pas de deux der Tänzerin in weiß. Die fließenden, träumerischen Bewegungen, an das klassische Repertoire erinnernd, werden ab und zu abrupt unterbrochen, und dann begegnen sich die Blicke der beiden Akteure wie in einem Duell. Die Harmonie scheint ebenso vollkommen wie latent gefährdet. Im scheinbar sanften, letztendlich rigiden Wechsel übernimmt die Tänzerin in gelb, (nur einen ganz kurzen Moment sieht es nach einem pas de trois aus, dann schubst sie die Rivalin von der Bühne), fordernder und selbstbewusster im Auftreten, trotz der mit schier unendlicher Ruhe ausgeführten, kaum den Boden verlassenden Hebefiguren immer wieder mit Anspruch auf eine Führungsrolle. Aber am Ende "ihres" Teils läuft sie dem Mann davon, ist trotz zweier Versuche nicht zu halten. Statt ihrer übernimmt die Tänzerin in rot, lässt sich beinahe wie eine Puppe führen, um im nächsten Moment wie in einem Ringkampf ihre Rolle einzufordern. Die Vielschichtigkeit, die Kraft der kleinen Gesten, die absolute Souveränität jeder Bewegung, aber eben auch die inhaltliche Komplexität und nicht zuletzt der feine Humor - das macht das Großartige an diesem etwa 15-minütigem Stück aus. In Short cut erzählt van Manen in jedem Moment mehr über wunderbare, schwierige Zweierbeziehungen als andere an langen Tanzabenden. Eine kleine Frau: Wun Sze Chan, Daniele Bonelli, Ensemble Der Titel Short cut gibt das Programm für den Abend vor, an dem keine Choreographie länger dauert als eben diese rund 15 Minuten - und viel höher kann man die Messlatte für junge Choreograph:innen, die auf den niederländischen Altmeister antworten, wohl auch nicht hängen. Ziemlich genial antwortet die erst 23-jährige Kanadierin Neshama Nashman, Tänzerin in der Compagnie der Rheinoper, mit Eine kleine Frau auf diese Herausforderung. Inhaltlich bezieht sie sich auf eine Kurzgeschichte von Franz Kafka mit ebendiesem Titel, von der Auszüge aus dem Off vorgelesen werden. Wobei Kafka einen handlungslosen zehnseitigen Monolog geschrieben hat, in dem das Ich darüber sinniert, wie seine bloße Existenz einer Frau, deren Beziehung zu ihm nicht näher erläutert wird, zum Ärgernis wird und wie die Öffentlichkeit darauf quasi als Richter reagieren könnte. Weil eine echte narrative Struktur fehlt, ist Eine kleine Frau auch kein Handlungsballett geworden. Nashman greift die Grundkonstellation auf, zeigt eine anonyme Öffentlichkeit ("die Gesellschaft") als Gruppe in uniformen grauen Anzügen, aus der das Ich (mit komischer Verzweiflung und hoher Präsenz: Daniele Bonelli) heraustritt und auf die kleine Frau im gelben Kleid (wunderbar kleinbürgerlich puppenhaft: Wu Sze Chan) trifft. Zu einer hypernervösen Maschinenmusik von Alexander MacSween (*1964) sind die Bewegungen stilisiert und abgehackt, oft nahe am Slapstick. Verträumter, wie eine Vision vom möglichen individuellen Glück, wirkt ein pas de deux zur Musik von Bohuslav Martinu. Hilft nichts: Das Stück endet mit einer schallenden Ohrfeige. Nashema Nashman geht stilsicher mit der comichaften Überzeichnung um und gibt ihrer Choreographie eine ironische Doppelbödigkeit.
Bridget Breiner, Ballettchefin am Badischen Staatstheater Karlsruhe und zuvor in Gelsenkirchen, gehört zum Establishment der Tanzszene. Mit North Country steuert sie die zweite Uraufführung des Abends bei. Vier Songs aus dem Genre Country und Folk bilden die musikalische Grundlage für eine zunächst federleichte Choreographie für zwei Tänzerinnen und zwei Tänzer - vier junge Menschen, die unbeschwert das Leben genießen. Svetlana Bednenko, Virginia Segarra Vidal, Nelson López Garlo und Vinícius Vieira zeigen viel Persönlichkeit. Im Verlauf des Stückes tauschen sie die helle Kleidung, bei den Frauen sehr kurze Kleider, gegen dunkle, strengere Trikots - da legt sich ein leichter Schatten über die sommerabendliche Atmosphäre. Auch der Tanz wird strenger und kontrollierter. Jedes Ding hat seine Zeit und Endlichkeit: Pete Seegers hat den Bibeltext aus dem Buch Prediger 1950 in seinem Song Turn, turn, turn verarbeitet, der hier eingespielt wird. Bei Bridget Breiner kann man die leise Melancholie des Erwachsenwerdens herauslesen, keineswegs als Drama, aber eben mit einer gewissen Wehmut, die sich aus dem Verlust des himmelhochjauchzenden Beginns der kleinen Szene ergibt. Ebony Concerto: Miquel Martinez Pedro, Futaba Ishizaki
Ebony Concerto, 2015 für das Ballett Dortmund kreiert (unsere Rezension), ist der Beitrag des Hausherren Demis Volpi für diesen Abend - ein Zwei-Personen-Stück, das Futaba Ishizaki und Miquelon Martínez Pedro hinreißend frech in extrem knappen Jeans-Höschen und hautfarbenen Oberteilen tanzen - sehr sexy und sehr selbstbewusst. Zu Strawinskys Konzert für Klarinette und Bigband (uraufgeführt 1946) hat Volpi eine temporeiche und mitreißende Choreographie geschaffen, die durchaus den Spitzenschuh einsetzt, andererseits mit extrem abgewinkelten Gliedmaßen den klassischen Formenkanon geradezu konterkariert. Auf der großen, bis zur rückwärtigen Mauer leeren Bühne wirkt das Paar physisch klein, kann aber mit immenser Energie diesen Raum füllen und beherrschen. Dazu gibt's raffinierte Lichtwechsel, zwischenzeitlich sieht man nur die Silhouetten. So wie Strawinsky die konventionellen Gattungen sprengt und die Grenzen zwischen Jazz und "ernster" Musik aufhebt, geht auch Volpi frei mit unterschiedlichem tänzerischem Vokabular um. Ebony Concerto ist das unkomplizierteste, in der Wirkung unmittelbarste Werk des Abends und wird auch am meisten vom Publikum bejubelt.
Parallel Bodies von Virginia Segarra Vidal (die 1981 geborene Spanierin tanzt wie Neshama Nashman im Ensemble des Hauses) führt aus dem Bühnen- und Zuschauerraum hinaus - das Publikum folgt den sechs Tänzerinnen und Tänzern hinaus ins Foyer des Duisburger Theaters. Entstanden ist die Choreographie ursprünglich im Zusammenhang mit einer Ausstellung im Duisburger Lehmbruck-Museum als eine Auseinandersetzung von Skulptur und (Alltags-)Bewegung, dezidiert langsam und bewusst ausgeführt. Auf die Theatersituation übertragen bekommt der Ansatz einen anderen Fokus, greift Bewegungsabläufe der Besucher auf und transformiert diese in skulptural anmutende Gruppen. So reißt die Wand zwischen Tänzer:innen und Publikum auf. Konzeptionell ist das hübsch gedacht, scheitert aber daran, dass eben auch Pause ist und sich die Akteure, in den vollen Gängen des Foyers schlecht zu beobachten, im Gewusel verlieren. Zudem gelingt die extreme Stilisierung, derer es hier bedarf, unterschiedlich gut. Der Effekt von Parallel Bodies verpufft. Artifact II: Damián Torio, Charlotte Kragh, Ensemble
Den Abschluss bildet ein Klassiker. William Forsythe bedient sich in Artifact II, Teil einer 1984 in Frankfurt entstandenen Choreographie, mit der Chaconne aus der d-Moll-Partita für Violine solo von Johann Sebastian Bach eines der Heiligtümer der Musikgeschichte, dem man auf der Bühne erst einmal etwas entgegensetzen muss. Dies sind bei Forsythe zwei Paare (eindrucksvoll: Marie Luisa Castillo Yoshida und Daniele Bonelli, Charlotte Kragh und Dámian Torio), denen er Versatzstücke des klassischen Ballettvokabulars in höchster Intensität abverlangt, entsprechend den immensen technischen Anforderungen an den Musiker (leider wird nicht genannt, um welchen Interpreten es sich bei der spannungsgeladenen Einspielung handelt, die hier aus dem Lautsprecher ertönt). Aber Forsythe bricht diese virtuose tänzerische Umsetzung der Musik: Um die Paare herum steht streng symmetrisch das Ensemble und reagiert auf die Zeichen einer Vortänzerin mit elementaren Armbewegungen (Norma Magalhães). Und damit nicht genug; mehrfach senkt sich der Vorhang kurz, um danach beim Öffnen eine völlig neue Anordnung zu zeigen. Der Kontinuität von Bachs Komposition wird eine Diskontinuität des Tanzes entgegengesetzt, die den Betrachter aus der Linearität herausreißt. Artifact II stellt in seiner abstrakten Strenge und der extremen Spannung zwischen der geschlossenen Form der Chaconne und der im Detail konsequenten, in der Großform erratischen Choreographie ein faszinierendes Rätsel dar - ein Meisterwerk, das den Abend würdig beschließt.
Ballettchef Demis Volpi arrangiert mit leichter Hand choreographische Juwelen zu seinem bisher besten Ballettabend am Rhein. Unbedingt sehenswert. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
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