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Getanzte Utopien von der Vereinbarkeit von Individualität und Gesellschaft
Von Stefan Schmöe / Fotos von Sandra Then
Ein Mädchen erfriert in der Silvesternacht auf der Straße. Niemand hat ihr Zündhölzer abgekauft, ohne Einnahmen hat sie sich nicht nach Hause getraut. Im Sterben hat sie sich an den Flammen der Hölzer erwärmt, hat im letzten Aufflackern Visionen vom besseren Leben gehabt - vom Weihnachtsfest mit Braten, von der geliebten Großmutter. Ein allerletzter Moment des Glücks - aber kann man in einer solchen Situation vom "glücklichen Tod" sprechen? Hans Christian Andersens Märchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzern verweigert die Grimm'sche Formel "und wenn sie nicht gestorben sind …". Demis Volpi deutet die Vision des sterbenden Mädchens als Utopie vom besseren Leben, in der das Mädchen Teil der Gemeinschaft wird, und vom Bühnenhimmel fallen bunte Schneeflocken. Von Andersens bösem Ende ist das ein ganzes Stück weit entfernt.
Helmut Lachemann hat den Stoff in den 1990er-Jahren zur Oper umgearbeitet, mit stark politischem Impetus (er spannt den Bogen zur RAF-Terroristin Gudrun Ensslin). Der amerikanische Komponist David Lang (*1957) geht in seiner 2007 entstandenen und 2008 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Vokalkomposition The little match girl passion einen anderen Weg, der bei Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion seinen Anfang nimmt. Der Märchentext wird gerahmt und gebrochen durch (leicht veränderte, trotzdem sofort wiedererkennbare) Textstellen aus Bachs Monumentalwerk, wodurch die rund 35-minütige Komposition einen quasireligiösen Goldgrund bekommt. Zudem wird, wie in der Passion, die Erzählebene kommentiert durch stilistisch kontrastierende Einschübe, ähnlich den Chorälen und Arien bei Bach. Ursprünglich für Kammerchor und vier Solisten (die zusätzlich einfache Schlaginstrumente spielen) komponiert, singt in dieser Produktion ein betörend schön klingendes, vom warm leuchtenden und alles überstrahlenden Sopran von Viola Blache gekröntes Solistenquartett (mit Helene Erben, Mirko Ludwig und Sönke Tams Freier), das auch in das Bühnengeschehen eingebunden ist. Die auf einfachen tonalen, oft wiederholten Motiven aufgebaute Musik hat ihre Wurzeln in der stark repetitiven minimal music, ohne deren einlullenden Gestus zu übernehmen, behält Prägnanz und Klarheit, schon durch die Einteilung in relativ kurze Abschnitte. The little match girl passion: Das Mädchen (Rose Nougué-Cazenave) und die Kälte (Joaquin Angelucci) Demis Volpi hat 2018 auf Grundlage dieser faszinierenden Komposition eine Choreographie für das Bundesjugendballett geschaffen. Beim Blick auf den Besetzungszettel zuckt man erst einmal zusammen: Da tanzen neben dem Mädchen sowie Vater und Mutter noch "die Kälte", "die Wärme" und "das Feuer", was ein verkitschtes Kinderstück befürchten lässt. Ist es aber keineswegs, denn Volpi unterläuft raffiniert solche falschen Erwartungen. Erst einmal sieht man lange (und ohne Musik), wie eine Aufführung vorbereitet wird, der Rahmen ist damit bewusst künstlich. Wenn "die Kälte" sich Theaterschnee in die Taschen stopft, wird das zum Spiel mit Klischees und falschem Realismus. Realistisch bebildert wird dann nichts. Zentrale Figur ist natürlich das Mädchen, im weißen Kleid ein erstarrtes Wesen, das nur zu kurzen, abgehackten Bewegungen fähig ist (eindrucksvoll: Rose Nougué-Cazenave). Sich nicht frei bewegen zu können, das ist ja durchaus Höchststrafe im Ballett (zumal die anderen Tänzerinnen und Tänzer das sehr wohl können). Kälte bedeutet hier auch sozialer Ausschluss. Erst beim Anzünden der Hölzer erhält das Mädchen für kurze Momente Bewegungsfreiheit zurück, tanzt in der letzten Vision mit den anderen einen Reigen (die Vision der Großmutter wie im Märchen gibt es nicht), wobei die Choreographie in diesen Momenten ein wenig zu brav bleibt. Aber alles in allem hält Volpi die Spannung zwischen Abstraktion und Verfremdung auf der einen, erzählerischen Elementen auf der anderen Seite konsequent durch, und ihm gelingt eine bewegendes und an vielen Stellen berührendes Werk, das der Musik viel Raum lässt.
Nach der Pause gibt es mit Don't look at the jar des israelischen Choreographen Gil Harush, der sich damit erstmalig in Deutschland vorstellt. Der Titel lautet übersetzt "schau nicht auf das Glas", und man muss in Gedanken ergänzen: "sondern auf den Inhalt". So recht erschließt sich dieses Motto nicht, denn die Kostüme (die Harush ebenso wie das Bühnenbild selbst geschaffen hat) stellen sich bewusst quer zu den Sehgewohnheiten, insbesondere denen des klassischen Balletts mit seiner Spannung zwischen den Geschlechterrollen von Mann und Frau. Die wird hier aufgehoben; man sieht ein Ensemble aus Menschen ohne klar erkennbare Geschlechtszugehörigkeit, sehr individuell, mit teilweise entblößten Brüsten oder Strapsen sexuell konnotiert. Gleichzeitig gibt die einheitliche Farbpalette zwischen weiß und blassgrün einen ästhetischen Rahmen, der die Tänzer*innen in eine Kunst-Welt einbettet. Die Lichterketten, aus denen das Bühnenbild besteht, erinnern an ein Zirkuszelt oder ein Varieté: Vor allem letzteres ein Ort, an dem andere Rollenbilder als die bürgerlich festgelegten denkbar waren. Wenn man hier nicht "auf das Glas schauen" soll, werden dann erst einmal Vorurteile gegen diese Bildwelt konstruiert, um sie dann tänzerisch zu widerlegen? (Zum Glück erweist sich das Stück dann doch sehr viel entspannter.) Don't look at the jar
Dass es um sexuelle Identitäten geht, unterstreicht auch die Musik, die auf dem Album oil of every persons uninsides der Künstlerin SOPHIE (1986 - 2021) basiert, die als Trans-Frau ein "Symbol der Gender-Revolution" geworden ist, wie Harush in einem im Programmheft abgedruckten Gespräch sagt. Das komplette Album, teils sehr eigenwilliger elektronischer Pop, wurde von der Gruppe Wooden Elephant bearbeitet und verfremdet für Streichquintett - wie es Wooden Elephant schon mit Alben von Björk, Radiohead oder Beyoncé gemacht hat. Die Formation spielt live auf der Bühne, und die Musik ist ungemein beeindruckend, dabei keine "Tanzmusik". Wie schon in The little match girl passion geht es aber auch nicht darum, eine Komposition unmittelbar in Bewegung umzusetzen; die Musik liefert viel mehr den akustischen und auch dramaturgischen Rahmen. Harush setzt das in einer freien, intensiven, dabei durchaus elegante Bewegungssprache um, die auf einem beständigen Wechsel zwischen Ensemble und Solo oder pas de deux besteht - Gruppe und Individuum, wobei die Gruppe hier bei aller Verschiedenheit der Akteur*innen als homogen funktionierendes Kollektiv auftritt. Die Selbstverständlichkeit, mit der Harush dieses Spannungsfeld auslotet, ist überzeugender als der gedankliche Überbau. Anders gesagt: Man kann Don't look at the jar sehr konkret als gesellschaftspolitisches Gender-Diskurs-Stück über queere Vielfalt und einen Apell an Offenheit betrachten; aber unmittelbarer wirkt die Sinnlichkeit der Choreographie, die sich von vielen Fesseln der Ballettkonvention befreit und, ziemlich vereinfacht formuliert (der Tanz kann das viel raffinierter, und dazu ist er da), eine Welt zeigt, in der sich der Mensch als unverwechselbares Individuum aufgehoben fühlt. Das wäre dann die optimistische Fortführung der Little match girl passion.
Harush ist an keine Handlung gebunden, was ihm mehr Freiheiten erlaubt als Volpi, die er auch nutzt - tänzerisch ist dieser zweite Teil des Abends der aufregendere. Gleichzeitig wird die fehlende Handlung zur Schwäche, weil eine klare Dramaturgie fehlt, um die rund 40 Minuten Musik zu füllen - irgendwann tritt Harush auf der Stelle, und die etwas rätselhafte Lösung für den Schluss, bei dem das Publikum zu früh applaudiert, überzeugt nicht recht. Don't look at the jar läuft irgendwie unbestimmt aus, als verliere die Choreographie den Glauben an sich selbst. Vielleicht muss man das als Teil der Freiheit und Unbestimmtheit so akzeptieren.
Zwei Choreographien mit ungewöhnlicher Musik ergänzen sich überzeugend zu einem ziemlich spannenden Ballettabend. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
ProduktionsteamThe little match girl passion
Choreographie
Bühne
Kostüme
Dramaturgie Uraufführung:
Sopran
Alt
Tenor
Bass
Das Mädchen
Die Kälte
Das Feuer
Die Mutter
Der Vater
Die Wärme
Choreographie, Bühne, Kostüme
Dramaturgie
Violine
Viola
Violoncello
Kontrabass
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