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Vom Staub befreiter Klassiker Von Thomas Molke / Fotos: © Hans Gerritsen Neben den großen klassischen Handlungsballetten Schwanensee, Der Nussknacker und Dornröschen von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky zählt auch Giselle zum Kanon des klassischen Ballett-Repertoires. Im Gegensatz zu den zuvor genannten Werken ist der Komponist Adolphe Adam heutzutage jedoch eher unbekannt. Dabei war er in der Mitte des 19. Jahrhunderts sehr produktiv und komponierte neben rund 16 Ballettmusiken auch noch insgesamt 45 Opern, von denen vielleicht noch Le postillon de Lonjumeau durch die berühmte Tenorarie des Postillons, "Mes amis, écoutez l'histoire" im Gedächtnis geblieben ist. Seine Giselle darf als absolutes Meisterwerk bezeichnet werden, das auch spätere Komponisten wie beispielsweise Léo Delibes beeinflusst hat. In Essen stand das Stück zuletzt 2014 als Koproduktion mit dem Musiktheater im Revier Gelsenkirchen in einer Choreographie von David Dawson auf dem Programm. Während Dawson einen recht zeitgenössischen Ansatz mit klassischem Bewegungsvokabular gewählt hatte, hat sich Ben Van Cauwenbergh, der in seiner aktiven Karriere als Tänzer selbst häufig den Albrecht getanzt hat, entschieden, zu den Wurzeln des Stückes zurückzukehren und eine "vom Staub befreite" Choreographie nach der Originalfassung von Jean Coralli, Jules Perrot in der Überlieferung durch Marius Petipa auf den Spielplan zu stellen.Das Stück verbindet zwei unterschiedliche Welten, in denen jeweils ein Akt spielt. Im ersten Teil befindet man sich in der realen Welt auf einem idyllischen Bauernhof. Hier lebt das junge Bauernmädchen Giselle, in das sich der Herzog Albrecht verliebt hat. Da seine aristokratische Herkunft allerdings einer Verbindung mit Giselle im Wege steht, gibt er sich als Loys aus. Hilarion, ein alter Freund und Vertrauter Giselles, der das junge Mädchen ebenfalls liebt, ist über Giselles Zurückweisung sehr unglücklich und offenbart ihr Albrechts wahre Identität. Als Giselle auch noch erfährt, dass Albrecht bereits mit der Prinzessin Bathilde verlobt ist, verliert sie den Verstand und stirbt. Dorin Gal hat für diese Erzählung ein pittoreskes Bühnenbild entworfen, das auf einem großen Prospekt im Bühnenhintergrund eine herrliche Landschaft zeigt. Mit Liebe zum Detail ist auf der linken Seite ein einfaches Bauernhaus gestaltet, aus dessen Schornstein sogar Rauch aufsteigt. Hier lebt Giselle mit ihrer Mutter Bertha. In mehreren Ebenen ist eine rustikale Landschaft mit Blättern und Bäumen zu sehen, die den Tänzerinnen und Tänzern Möglichkeiten für die Auftritte und Abgänge bietet. Auf der rechten Seite befindet sich ebenfalls eine kleine Hütte, in der Albrecht seinen Degen versteckt, auf dessen Wappen Hilarion ihn schließlich als Herzog identifiziert. Die Kostüme, für die ebenfalls Gal verantwortlich zeichnet, fangen den ländlichen Charakter des Stückes ebenfalls wunderbar ein. Ausgelassenes Fest auf dem Lande: von links: Bathilde (Julia Schalitz), Bertha (Yulia Tsoi) und Compagnie mit Yusleimy Herrera León, William Emilio Castro Hechavarría, Wataru Shimizu und Yanelis Rodriguez beim Pas de quatre Neben der Compagnie sind auch sechs Schülerinnen und drei Schüler des Fachbereichs Tanz am Gymnasium Essen-Werden integriert, die als muntere Dorfjugend für große Begeisterung sorgen. Auch ein Hund auf der Bühne darf nicht fehlen, den Hilarion bei seinem ersten Auftritt an Giselles Haus vorbeiführt, wobei er pantomimisch seine große Liebe für Giselle bereits hier zum Ausdruck bringt. Überhaupt findet neben reinem Tanz viel pantomimisches Spiel in diesem Stück Platz. So gehen Tanz und Handlung in großen Teilen Hand in Hand, was wohl ebenfalls für die große Beliebtheit des Stückes gesorgt hat. Allein die Tänze beim Dorffest stellen einen retardierenden Moment in der Geschichte dar. Van Cauwenbergh inszeniert sie als Pas de quatre, wobei die vier Tänzer*innen auch noch jeweils kurze Soli bekommen. Darin wird das hohe Niveau der Essener Compagnie deutlich. William Emilio Castro Hechavarría punktet mit kraftvollen Sprüngen und atemberaubenden Drehungen. Gleiches gilt für Wataru Shimizu. Yanelis Rodriguez besticht durch fließende Eleganz und grazile Leichtigkeit beim Spitzentanz, und Adeline Pastor wirbelt gewohnt akrobatisch über die Bühne und begeistert durch exakte Drehungen auf Spitze. In den Ensembles begeistert die Compagnie als Dorfgesellschaft durch ausgelassene Fröhlichkeit, die beim Tod Giselles in absolutes Entsetzen umschlägt. Albrecht (Artem Sorochan) liebt Giselle (Yuki Kishimoto, Mitte). Auch die Titelpartie ist mit Yuki Kishimoto hochkarätig besetzt. Mit ausgelassener Fröhlichkeit präsentiert sie im ersten Akt das verliebte junge Bauernmädchen, das aus Liebe zu Albrecht ihren alten Freund Hilarion zurückweist. Mit großer Eleganz und sauberem Spitzentanz punktet sie bei ihrem großen Solo und lässt ihren glücklichen Gefühlen freien Lauf. Dabei macht sie allerdings bereits glaubhaft, dass es mit Giselles Gesundheit nicht zum Besten steht. Immer wieder wird sie von ihrer Mutter Bertha (Yulia Tsoi mit eindringlichem Spiel) gewarnt, ein bisschen mehr auf sich achtzugeben. Doch sie weist diese Mahnungen mit jugendlicher Leichtigkeit von sich. Umso heftiger ist dann der Schock, wenn sie in Albrecht den Herzog und Verlobten Bathildes erkennt. Die große Wahnsinnsszene gestaltet Kishimoto mit eindringlichem Spiel und stirbt schließlich in Albrechts Armen. Artem Sorochan begeistert als Albrecht mit kraftvollen Sprüngen und überbordendem Spiel. Immer wieder muss sein Begleiter Wilfried (Enrico Jozef Vanroose) ihn in seine Schranken weisen und zurückhalten. So verhindert Wilfried zum einen einen offenen Kampf zwischen Albrecht und Hilarion und versucht zum anderen, Albrecht von Giselle fernzuhalten, wobei ihm Letzteres nicht gelingt. Julia Schalitz verleiht der Prinzessin Bathilde königliche Eleganz. Wolfgang-Maria Märtig arbeitet mit den Essener Philharmonikern den größtenteils ausgelassenen Stil des ersten Aktes mit leichter Hand heraus und führt in bewegender Interpretation zum dramatischen Ende. Die Wilis (Compagnie) Im Teil nach der Pause taucht man dann auch musikalisch in eine ganz andere Welt ein, die mysteriös und nahezu ätherisch klingt. Schon wenn man den Saal betritt, blickt man auf einen riesigen auf den Vorhang projizierten Wald, der in eine nahezu unheimliche Gegend führt. Nebel umhüllt lässt sich hier das Grab Giselles erkennen, an dem Hilarion zu Beginn des zweiten Aktes trauert. Im Hintergrund scheint ein fahler Vollmond, der die Atmosphäre noch gespenstischer macht. In diesem Ambiente erwachen nun die Wilis, weibliche Naturgeister, die Heinrich Heine in De l'Allemagne als junge Frauen beschreibt, die vor ihrer Hochzeit gestorben sind und des Nachts als Geister an Wegkreuzungen tanzen. Wenn sie dabei einem lebenden Mann begegnen, tanzen sie so lange und wild mit ihm, bis dieser tot umfällt. Rosa Pierro tritt als Myrtha, die Königin der Wilis, auf. Im Hintergrund scheint sie in diesem unheimlichen Ambiente regelrecht auf die Bühne zu schweben. Pierro glänzt bei ihren Bewegungen auf Spitze und ihren Drehungen durch eine Leichtigkeit, die unterstreicht, dass es für diese Naturgeister keine Schwerkraft zu geben scheint. Sie ruft nun die anderen Wilis herbei, um Giselle als neues Mitglied in ihrem Kreis aufzunehmen. In Essen verkörpern insgesamt vierzehn Tänzerinnen die weiteren Naturgeister, die bei ihrem Auftritt durch absolute Homogenität und exakte Bewegungen begeistern. Hilarion fällt ihnen in dieser Nacht zum Opfer und tanzt sich mit den Geistern zu Tode. Das alles wird von Yegor Hordiyenko und den Tänzerinnen der Compagnie großartig umgesetzt. Giselle (Yuki Kishimoto, links) schützt Albrecht (Artem Sorochan) vor Myrtha (Rosa Pierro, rechts) und den Wilis (Compagnie). Nun erscheint Kishimoto, die sich die Leichtigkeit aus dem ersten Akt bewahrt hat, sie aber nun noch mimisch durch eine bewegende Melancholie unterstreicht. Es kommt zu einer weiteren Begegnung mit Albrecht und einem betörenden Pas de deux, in dem Giselle dem Geliebten verzeiht. Bei aller Nähe, die die beiden dabei empfinden, wird aber trotzdem deutlich, dass sie nicht wirklich zueinander finden können, da sie sich in unterschiedlichen Welten bewegen. Dann wird es noch einmal richtig dramatisch. Myrtha und die Wilis fordern auch Albrecht als Opfer, doch Giselle gelingt es, ihn vor dem Tod zu bewahren. So kann er den Naturgeistern bis zum Morgengrauen standhalten und wird gerettet. Die Wilis ziehen sich zurück, Myrtha schwebt so von der Bühne, wie sie am Anfang gekommen ist, und Giselle versinkt erneut im Bühnenboden. Verzweifelt bricht Albrecht an Giselles Grab zusammen, weil er erkennt, die Geliebte endgültig verloren zu haben. Märtig taucht mit den Essener Philharmonikern eindrucksvoll in den surrealen und ätherischen Charakter dieser Nachtwelt ein und ruft wie die Tänzerinnen und Tänzer beim Publikum regelrechte Begeisterungsstürme hervor. Die erntet auch Van Cauwenbergh mit seinem Regie-Team am Ende der Vorstellung. FAZIT Auch wenn diese Inszenierung sich sehr nah am Original orientiert, hat Van Cauwenbergh es geschafft, "den Staub wegzuwischen". So traditionell kann man klassisches Ballett in NRW derzeit nur in Essen erleben. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Choreographie
Bühne und Kostüme
Coaching
Licht
Dramaturgie
Essener Philharmoniker Compagnie des Aalto Ballett Essen
Schüler*innen des
Fachbereichs Tanz am Statisterie des Aalto-Theaters
*Premierenbesetzung
Giselle
Albrecht
Hilarion
Bertha, Giselles Mutter
Bathilde
Myrtha
Wilfried
Prinz der Pfalz, Bathildes Vater
Pas de quatre
Zwei Hauptwilis
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