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Keine Gnade für irrend Liebende
Von Stefan Schmöe
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Fotos von Matthias Jung Die Liebe ist ein seltsames Spiel. Das besang nicht erst Connie Francis 1960, das wussten bereits Wolfgang Amadeus Mozart und sein Librettist Lorenzo Da Ponte in ihrem Figaro rund 200 Jahre früher, im Uraufführungsjahr 1786. Und vor ihnen Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais, auch wenn der in seinem Schauspiel La folle journée ou Le mariage de Figaro (Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit), das die Vorlage zu Da Pontes Textbuch lieferte, weniger die Irrungen der Liebe als vielmehr die Rolle des moralisch abgewirtschafteten Adels am Vorabend der Französischen Revolution im Sinn hatte. Ein liebestoller Graf möchte noch ein letztes Mal, angeblich, das "Recht der ersten (Liebes)-Nacht" bei Dienerin Susanna geltend machen, ein knabenhafter Page verdreht allen Frauen im Hause den Kopf, und ganz kurz deutet sich in dieser Inszenierung auch die Möglichkeit einer erotischen Affäre zwischen Gräfin und Susanna an. Ein Satyr auf Bocksfüßen, den Regisseur Floris Visser hinzuerfunden hat, springt allgegenwärtig durch die Szenerie, und (etwas seltener) ein kleiner Cupido mit Flügelchen. Als Stellvertreter für Begierde und Liebe bestimmen diese beiden den beinahe in Echtzeit erzählten tollen Tag. Es hätte womöglich eine brillante Mittsommernachtssexkomödie ganz im Sinne Woody Allens werden können. Lord Almaviva (mit Zeitung) bezieht seinen neuen Landsitz.
Herausgekommen ist dann doch ein eher flaues Serienspecial von Downtown Abbey, und das hat viele Gründe. Erst einmal braucht es in dieser Oper natürlich weder einen Satyr noch einen Cupido, denn Mozarts und Da Pontes Geschichte spricht in Liebesdingen für sich. Die allegorischen Figuren, die ziemlich schnell auf die Nerven gehen, sind redundant und bringen keinen Mehrwert, zumal die knisternde Erotik zwar behauptet, aber trotz einiger angedeuteter Kopulationen kaum gezeigt wird: Dazu fehlen der Personenregie die Zwischentöne. Allzu vieles verliert sich auf der riesigen, für das Kammerspiel eben doch zu großen Drehbühne des Essener Aalto-Theaters, auf der Ausstatter Gideon Davey ganz hübsch einen leicht renovierungsbedürftigen Landsitz gebaut hat, der schnelle Raum- und Szenenwechsel ermöglicht. Und natürlich hat Visser Recht, wenn er in Mozarts Musik die tragischen Töne heraushört, eben das macht die Größe dieser Oper aus, und die Inszenierung das auch szenisch zeigt. Aber Visser inszeniert zu wenig Komödie - die dreieinviertel Stunden Spieldauer ziehen sich. Und ausgerechnet in der großen Arie "Dove sono" der Gräfin, die melancholisch die Vergänglichkeit der Liebe besingt, stürzt er sich in Aktionismus, schickt die Gräfin zum Fotoshooting und zum Umziehen und macht die Musik zur Nebensache. Das ist durchaus bezeichnend: Man hat den Eindruck, dass sich die Regie meist wichtiger nimmt als die Musik. Almaviva entdeckt den Pagen Cherubino (mal wieder) am falschen Ort.
Visser verlegt die Handlung in das England des ersten Weltkriegs. Der beim Stelldichein mit der Gräfin erwischte Page Cherubino wird kurzerhand an die Front geschickt und mit Gasmaske ausstaffiert - das zeigt zwar überdeutlich die Abgründigkeit der Situation, glaubwürdig ist es allerdings nicht. Wie dieser Gesellschaft auch die Würde und auch das Standesbewusstsein des englischen Adels fehlt. Diener Figaro wird im Verlauf der Geschichte seinem Dienstherren Graf Almaviva immer ähnlicher, könnte der jüngere Bruder sein, wie auch Susanna wenig von einer Kammerzofe besitzt und vielmehr als loyale Freundin der Gräfin agiert. Aber wenn er den Fokus weg vom sozialen Gefüge und hin auf die Liebe, dieses seltsame Spiel, verschiebt, gehen Visser die Konfliktlinien verloren, die bei Mozart und Da Ponte ja bewusst über die Standesgrenzen hinweg verlaufen, daraus bezieht der Figaro seine Radikalität. Visser dagegen erzählt seine Geschichte aus dem englischen Landadel ganz passabel, aber eben im Netflixformat. Verschwörung wohl eher unter Freunden als über Klassengrenzen hinweg: Susanna (links, hier: Markéta Klaudová) und Figaro unter den Augen des Satyrs.
Den vierten Akt im nächtlichen Garten bekommt er wie so viele Regisseur:innen nicht in den Griff. Bereits einen Akt zuvor breiten sich sehr moderat Pflanzen im Schloss aus, Zeichen für die Natur (man darf mitdenken: das Triebleben), die sich zunehmend über die Kultur hinwegsetzt. Figaros Zimmer ist inzwischen hübsch symbolisch naturgrün angestrichen, das hat der Satyr besorgt und dabei auch ein von Cherubino gemaltes Herz, das der Graf zwischenzeitlich zur obszönen Zeichnung verunstaltet hat, überstrichen (es geht schlicht zu in der Symbolik). Das Gerüst für die Malerarbeiten steht noch und dient als Versteck, was auch nicht besser funktioniert als der sonst obligate Pavillon. Die (nicht ohne Grund) oft gestrichenen Arien von Marcellina und Basilio ziehen unmotiviert das Geschehen in die Länge, und dann kommt er, der große Moment der Aufklärung, in dem der Graf um Verzeihung bitten muss: "Contessa, perdono", und für den Mozart die Welt für einen Moment zum Stillstand bringt und auf den doch alles zulaufen müsste - der hier aber verpufft. Szenisch, weil Visser kein glückliches Ende zeigen will. Um es kurz zu machen: Die Gräfin verzeiht nicht. Dieser Figaro endet mit einem besiegten Cupido - der Satyr und damit der Sexualtrieb hat gewonnen, die echte Liebe gibt es nicht mehr. Ein banales glückliches Ende, ein lieto fine, hatte aber auch Mozart nicht im Sinn, der freilich viel größer dachte. Oder, so ähnlich spricht es Salieri in Milos Formas Film Amadeus aus: Bei Mozart bittet die Menschheit um Verzeihung für ihre Fehlbarkeit. Bei Visser bleibt es, vereinfacht gesagt, bei einem sarkastisch kommentiertem "wer kriegt wen?". Das Finale: Verwirrung im Garten.
Auch die recht enttäuschende musikalische Seite dieser Essener Produktion verschenkt diesen (und nicht nur diesen) großen Moment. Tobias Greenhalgh ist ein szenisch engagierter, stimmlich aber farbloser Graf Almaviva, dem es entschieden an vokaler Noblesse fehlt. Jessica Muirhead hat für die Gräfin eine zu große und schwere Stimme, gestaltet die Partie aber sorgfältig mit konzentriertem Piano - aber auch da fehlt es an Eleganz und auch an Leichtigkeit. Musikalisch überzeugender steht es um das Dienerpaar: Baurzhan Anderzhanov singt einen agilen Figaro, Lisa Wittig eine Susanna mit schöner Stimme, die aber (zu) wenig szenische und vokale Präsenz entwickelt und sehr brav im Hintergrund bleibt. Hübsche und jugendlich feurige Töne, wenn auch etwas unausgeglichen, findet Miriam Albano für den Cherubino. Essens scheidender Generalmusikdirektor Tomáš Netopil dirigiert die soliden Essener Philharmoniker ziemlich pauschal, oft ein wenig behäbig und mit wenig Sinn für den Witz und die abrupten Wendungen der Musik - eher ein gediegener, ein wenig langweiliger Figaro. Da ist man im benachbarten Wuppertal, wo gerade die ungleich flottere (und überzeugender besetzte) Inszenierung von Joe Hill-Gibbins wiederaufgenommen worden ist, in vieler Hinsicht besser bedient.
Musikalisch ein recht blasser Figaro, dessen angestrengt-bemühte Inszenierung sich in überflüssigen Allegorien auf der großen Bühne verliert. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne und Kostümkonzept
Umsetzung Kostümkonzept
Licht
Chor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der rezensierten Aufführung
Graf Almaviva
Gräfin Almaviva
Cherubino
Figaro
Susanna
Bartolo
Marcellina
Basilio
Don Curzio
Antonio
Barbarina
Cupido
Satyr
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