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Musiktheater
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Marnie

Oper in zwei Akten
Libretto von Nicholas Wright nach dem gleichnamigen Roman von Winston Graham (1961)
Musik von Nico Muhly

in englischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2 h 30' (eine Pause)

Deutsche Erstaufführung im Großen Haus am 14. Januar 2023
(rezensierte Aufführung: 19.01.2023)

 

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Theater Freiburg
(Homepage)

Die Sopranistin auf der Psycho-Couch

Von Christoph Wurzel / Fotos: © Britt Schilling

Eine junge Frau aus prekären Verhältnissen, intelligent, attraktiv, unabhängig, selbstbewusst und mit einer besonderen Leidenschaft: Sie raubt den Safe der Firma aus, bei der sie gerade angestellt ist - jedes Mal unter wechselnden Namen, verändertem Äußeren und an einem anderen Ort, insgesamt vierzehn Mal. Dann verschwindet sie und beginnt das Spiel auf's Neue. Das Risiko scheint sie zu reizen, aber auch das Geld, zu dem sie ein unverkennbar erotisches Verhältnis hat. Männerbeziehungen dagegen geht sie strikt aus dem Wege. Ja, sie hat sogar Angst davor.

Das ist Marnie, die Hauptfigur dieser Oper, die auf dem gleichnamigen Roman des englischen Erfolgsautors Winston Graham basiert, der bald nach Erscheinen Alfred Hitchcock zu seinem Film (1964) animierte mit Tippi Hedren in der Titelrolle und Sean Connery als Mark Rutland. Die Oper des US-amerikanischen Komponisten Nico Muhly entstand über 50 Jahre später. Nach der Uraufführung an der English National Opera in London 2017 ging die Produktion 2018 an die MET, die auch den Kompositionsauftrag erteilt hatte. Nun hat das Theater Freiburg die Oper als deutsche Erstaufführung auf die Bühne gebracht.

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Marnie und ihre Schatten: Bonnie Frauenthal, Alina Kirchgässner, Daniela Meinig, Janina Straub und Inga Schäfer (Marnie)

Es muss irgendetwas geben, das dieses Sujet am Leben erhält. Die Freiburger Produktion kann darauf eine Antwort geben. Marnie ist eine geheimnisvolle Figur. Keine nach außen blendende Hochstaplerin, wie oftmals ihre männlichen Kollegen, sondern eine im Verborgenen mit außerordentlicher Berechnung agierende Diebin und Lügnerin, die es ihrer Umwelt schwer macht, sie zu durchschauen. Muhlys Oper liefert eine spannende psychologische Studie dieser rätselhaften Persönlichkeit und bietet am Schluss auch die Erklärung - ein Trauma, das Marnie von Kindheit an belastet.

Überzeugend hat der Regisseur der Freiburger Produktion Peter Carp den Thriller-Charakter der glänzend entwickelten Dramaturgie des Librettos  herausgearbeitet. In seiner stark abstrahierenden Inszenierung, die auf überflüssigen Bühnen- Naturlalismus verzichtet, hat er den Focus auf die inneren Vorgänge Marnies gelegt. Denn Marnie erscheint nur nach außen als selbstsicher, innerlich ist sie es nicht. Vor jeder neuen Tat muss sich psychisch wieder neu aufbauen. In den monologischen Szenen umgeben sie vier "Schatten", als Personifizierungen der divergierenden Anteile ihrer Persönlichkeit, die ihr mal Zweifel, mal Ermunterung und mal Gewissensbisse ("der Gerechtigkeit wirst du nicht entgehen!") einflüstern. In einem fast magisch ausgeleuchteten Spotlight erscheint die Figur dann einsam, ohne Maske und Verstellung.

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Ohne Ausweg?: Michael Borth (Mark Rutland), Inga Schäfer (Marnie, hinter der Scheibe)

Als Maggie Hulbert, ihrer vierzehnten Identität, wird sie überführt. Unter diesem Namen hatte sie sich in der Firma von Mark Rutland und seinem Bruder Terry anstellen lassen. Ihr Plan, der bisher reibungslos funktionierte, wird hier zum ersten Mal durchkreuzt, denn Mark verliebt sich in seine Angestellte und von Terry wird sie gestalkt. Nach und nach beginnt er sie zu durchschauen. Als Marnie auch in Marks Firma den Safe knacken will, erwischt er sie auf frischer Tat und stellt sie vor die Wahl: Heirat oder Polizei. In diesem Moment ist sie gefangen, die schlaue Füchsin sitzt in der Falle. Auf die Heirat geht sie unter einer Bedingung ein: keinen Sex. Doch Rutland lässt nicht locker. Als er sie zu vergewaltigen versucht, schlitzt sie sich die Pulsadern auf. Marnie ist am Tiefpunkt angelangt, wenn die Pause beginnt.

Die Freiburger Produktion punktet neben der überzeugenden Ausstattung im minimalistischen Bühnenbild von Kaspar Zwimpfer, den zeittypischen Kostümen der sechziger Jahre (Su Bühler) und der präzisen Personenregie mit höchst präsenten Sängerdarstellern. Die Titelrolle ist eine gewaltige Partie, in jeder der zwei Dutzend Szenen ist Marnie anwesend. Die Mezzospranistin Inga Schäfer, Freiburger Ensemblemitglied, verleiht ihrer Figur scharfe Kontur. Einerseits ganz Dame, beherrscht und cool - andererseits panisch und in kurzen Momenten außer sich. Die Schlüsselszene ist eine Fuchsjagd, bei der sich Marnie mit dem gejagten Tier identfiziert. In Zeitlupe stürzt sie dabei vom Pferd. Ein geschickter Regiekniff für diese schwierige Szene, mit dem der Regisseur an die Mittel des Films erinnert.

Beim Analytiker tastet Marnie sich an ihr Trauma heran, Flashbacks erschüttern ihr bisheriges Selbstbild. Mark hält zu ihr, doch noch einmal versucht sie in ihre alte Rolle zu flüchten, aber sie ist unfähig das erbeutete Geld aus Rutlands Tresor an sich zu nehmen.

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Beim Analytiker: Inga Schäfer (Marnie), Jin Seok Lee (Arzt) und Marnies Schatten ( Bonnie Frauenthal, Alina Kirchgässner, Daniela Meinig)

Muhlys Musik illustriert in farbiger Instrumentation vor allem die inneren Zustände der Figuren. Den Protagonisten hat er deutlich vernehmbar jeweils ein typisches Instrument zugeordnet. Bei Marnie ist es die Oboe. Dem etwas sehnsüchtig-melancholischen Mark gehört die Posaune. Michael Borth singt die Rolle mit warmem, kantablem Bariton. Sein Bruder Terry wird verkörpert vom Countertenor Christopher Ainslie, was der Figur in diesem Kontext vollkommen passend den Nimbus einer gewissen Unberechenbarkeit verleiht. Scharf profiliert sind insgesamt auch die Nebenrollen in diesem umfangreichen Ensemble, vor allem die herrische Mutter der Brüder Rutland in Gestalt von Katherine Manley.

Nico Muhly versteht sein Handwerk. Die Musik jongliert mit einer Palette von Stilebenen zwischen der Minimal Music bis zum anglikanischen Kirchengesang. Die Gesangspartien folgen zumeist einem schmucklosen Parlando, nur an Stellen von größerer seelischer Bewegung gibt es expressivere Kantilenen bis hin zu vokalen Ausbrüchen. Der neue Freiburger GMD André de Ridder versteht sich hörbar gut auf diese Musik und hebt motivische Details wie auch die reichen Klangfarben des Orchesters prägnant hervor. Vor allem auch garantiert er für hervorragende Textverständlichkeit, indem die Sängerinnen und Sänger nie vom Klang aus dem Graben überdeckt werden.

Der Schluss von Muhlys Oper ist weit überzeugender als die Lösung in Hitchcocks Film. Hier stellt sich heraus, dass Marnie in früher Kindheit von ihrer Mutter des Mordes an ihrem neu geborenen Bruder beschuldigt wurde. An diesem Schuldkomplex hat Marnie ihr Leben lang getragen. Bei der Beerdigung ihrer Mutter, dem Schlussbild der Oper, klärt eine Nachbarin sie über die Wahrheit auf: Die Mörderin war die Mutter selbst, um ihre Schwangerschaft aufgrund von Gelegenheitsprostitution zu verheimlichen. Plötzlich ist Marnie von ihrem Schuldkomplex und dem damit  verbundenen Wiederholungszwang befreit. Gleichzeitig aber rückt die Polizei an, um sie als Betrügerin zu verhaften. Eine Schlusspointe, die Sinn macht.

FAZIT

Sicherlich ist diese Oper eine Bereicherung des Repertoires hierzulande. Mit einer aufwändigen und überzeugenden Produktion hat sich das Theater Freiburg auf jeden Fall darum verdient gemacht.

 



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Produktionsteam

Musikalische Leitung
André de Ridder

Regie
Peter Carp

Bühne
Kaspar Zwimpfer

Kostüme
Su Bühler

Licht-Design
Diego Leetz

Chorleitung
Norbert Kleinschmidt

Dramaturgie
Tatjana Beyer

 

Philharmonisches Orchester Freiburg

Chor und Extrachor des Theaters Freiburg

Statisterie des Theaters Freiburg


Solistinnen und Solisten

Marnie
Inga Schäfer

Mark Rutland
Michael Borth

Terry Rutland
Christopher Ainslie

Mrs. Rutland
Katherine Manley

Marnies Mutter
Anja Jung

Lucy
Lila Chrisp

Laura Fleet
Katharina Rückgabe

Malcolm Fleet
Lorenz Kauffer

Mr. Strutt
Robin Gionfriddo

Dawn
Irina Yae Run Park

Dr. Roman
Jin Seok Lee

Derek
Hyunhan Hwang

Little Boy
Jakob Lichti
(Cantus Juvenum Karlsruhe)

Marnies Schatten
Alina Kirchgässner
Bonnie Frauenthal
Daniela Einig
Janina Staub

Miss Felder
Melissa Serluco

Die Ältesten
Sabine Schmidt
Bodo Warneking

 


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Theater Freiburg
(Homepage)





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