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Abrechnung auf der TrauerfeierVon Thomas Molke / Fotos: © Sandra ThenWährend sich im 17. Jahrhundert die Barockoper in Italien und Frankreich als feste Größe im kulturellen Leben etablierte, war in England vor allem das von William Shakespeare geprägte Sprechtheater populär. Hinzu kamen sogenannte "Afterplays", die häufig einen Theaterabend mit Musik ausklingen ließen, und die "Masques", kurze Unterhaltungsstücke aus Schauspiel, Gesang und Tanz, die sich großer Beliebtheit erfreuten. Mit der Revolution und dem anschließenden Bürgerkrieg kam unter Oliver Cromwell das Theaterleben zunächst komplett zum Erliegen. Doch als Charles II., der während seines Exils in Frankreich die Oper kennen und lieben gelernt hatte, 1660 zum König ausgerufen wurde, versuchte er, mit seiner Rückkehr auf den Thron auch das Musiktheater in England zu etablieren. Zunächst entstanden sogenannte "Semi-Operas", in denen ein bereits bestehendes Schauspiel um Musik erweitert wurde. Die eigentliche Handlung spielte sich in den Dialogen von Schauspieler*innen ab, während die Musik für die Nebenrollen des Stückes bestimmt war. Der berühmteste Vertreter dieser Kompositionen war Henry Purcell, der wegen seiner Popularität auch "Orpheus Britannicus" genannt wurde. Neben seiner Oper Dido and Aeneas, die bis heute wohl seinen größten Erfolg markiert, schuf er bis zu seinem Tod 1695 einige der populärsten Semi-Operas und griff dabei häufig auf Shakespeare-Stoffe zurück. Auch The Tempest zählt zu den Stücken, zu denen Purcell Schauspielmusik komponierte. Die Regisseurin Katie Mitchell hat nun gemeinsam mit Raphaël Pichon aus dem umfangreichen Schaffen Purcells eine neue Semi-Opera konzipiert, bei der Miranda, die weibliche Hauptfigur aus The Tempest im Zentrum steht. Während Pichon gemeinsam mit Miguel Henry die Musik Purcells neu arrangiert und um vier Stücke von Matthew Locke, je einem von Jeremiah Clarke und Orlando Gibbons und zwei Stücke von unbekannten Komponisten erweitert hat, hat Cordelia Lynn ein Libretto erstellt, bei dem die Texte der Originalstücke nur geringfügig abgeändert worden sind. Das Projekt erlebte am 25. September 2017 an der Opéra Comique in Paris seine Uraufführung und gelangt nun mit durch Corona bedingten Verspätung in Köln zur deutschen Erstaufführung. Miranda (Adriana Bastidas-Gamboa) kann das erlittene Unrecht nicht ertragen. Wie bereits der Titel des Stückes verrät, wird Prosperos Tochter Miranda ins Zentrum der Handlung gerückt. Mitchell interessiert sich allerdings nicht erstrangig um die Handlung aus Shakespeares The Tempest, sondern richtet den Blick auf das, was nach der Rückkehr von der Insel mit Miranda und Prospero geschieht. Erzählt wird, wie Miranda die traumatischen Erlebnisse auf der Insel in der Gegenwart verarbeitet. Dafür hat Mitchell die Handlung in eine Kirche an der Küste von Suffolk verlegt. Hier soll der Trauergottesdienst für Miranda stattfinden, die sich das Leben genommen hat. Ihre Leiche wird in den Tiefen des Meeres vermutet. Neben ihrem Witwer Ferdinand erscheint auch ihr Vater Prospero mit seiner neuen jungen Gattin Anna, die schwanger ist und eine enge Bezugsperson für Mirandas Sohn Anthony darstellt. Die Zeremonie wird von einer verschleierten Braut und einer Schauspieltruppe unterbrochen, die die Gemeinde zwingen, sich die wahre Geschichte Mirandas anzusehen. In drei Szenen zeigen die Schauspieler*innen Mirandas Leidensweg vom Exil über die Vergewaltigung bis hin zur Verheiratung mit Ferdinand als Kindsbraut im Alter von 17 Jahren. Erst als Mirandas Sohn Anthony die verschleierte Frau anfleht aufzuhören, gibt Miranda sich zu erkennen. Während Ferdinand schuldbewusst um Vergebung und eine zweite Chance bittet, weigert sich Prospero, seine Fehler zuzugeben. Stattdessen träumt er sich zurück in die Vergangenheit, wo er glaubte, mit seiner Tochter glücklich gewesen zu sein. Miranda verlässt mit Ferdinand und ihrem gemeinsamen Sohn die Kirche. Anna ist unschlüssig, ob sie wegen des Kindes, das sie erwartet, bei Prospero bleiben soll, und Prospero denkt über Selbstmord nach. Miranda (Adriana Bastidas-Gamboa) zieht für das ihr zugefügte Leid ihren Vater Prospero (Alastair Miles) zur Rechenschaft. Raphaël Pichon ist es sehr gut gelungen, die Musik, die aus unterschiedlichen Werken Purcells stammt, für die Geschichte passend neu zusammenzusetzen, so dass man den Eindruck gewinnen kann, dass es sich um ein originäres Werk Purcells handelt. Anders als bei einer reinen Semi-Opera werden auch die Sprechpassagen von Musik untermalt. Cordelia Lynn bleibt im Libretto bei den gesungenen Passagen sehr nah am barocken Text und behält diesen Sprachduktus auch bei den Textänderungen bei, die sie vornehmen muss, um in den Musiknummern die neue Geschichte zu erzählen. In den gesprochenen Passagen wählt sie eine moderne Sprache, die unterstreicht, dass das Stück in die Gegenwart geholt worden ist. Ob sich Katie Mitchells Sicht auf Miranda wirklich aus Shakespeares Stück The Tempest herauslesen lässt, ist Ansichtssache. Zutreffend ist, dass Miranda mit dem Exil auf Prosperos Insel nicht glücklich gewesen ist und deshalb die Ankunft der Schiffbrüchigen mit großer Neugier begrüßt hat. Ob man von einer Zwangsverheiratung als Kindsbraut sprechen kann, wie sie es in Mitchells Stück ihrem Vater vorwirft, scheint fraglich, da Miranda bei Shakespeare durchaus Gefühle für Ferdinand hegt. Mitchell mag dies mit einer männlichen Sicht in Shakespeares Stück auf die Figur rechtfertigen, die sich nicht wirklich dafür interessiert, was in Miranda vorgeht. Noch unglaubwürdiger erscheint allerdings der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs. Im Maskenspiel bei Mitchell wird angedeutet, dass Miranda auf der Insel vergewaltigt wurde. Wahrscheinlich ist hier Caliban gemeint, der als Sklave auf der Insel Prospero zu Diensten war und mit den Neuankömmlingen gegen Prospero rebellierte. Caliban wird zwar häufig als triebgesteuertes Naturwesen interpretiert: Dass Prospero jedoch zugesehen haben soll, wie Caliban seine Tochter missbraucht, dürfte eine mehr als sehr freie Deutung von Shakespeare sein. Ferdinand (Ed Lyon) bittet Miranda (Adriana Bastidas-Gamboa) um Vergebung. Chloe Lamford hat einen Trauersaal mit sterilen grauen Wänden entworfen, der in der Mitte der Bühne von braunen Holzstühlen dominiert wird. Der Altar mit dem aufgebahrten Sarg, einem Portrait-Foto von Miranda und zahlreichen Blumen und Kränzen befindet sich auf der rechten Seite, während auf der linken Seite ein Gang in einen nicht näher definierten Bereich führt. Wieso bei der sogenannten "Anti-Ouvertüre" Schauspieler*innen des Nachts hier eine Masque proben, erschließt sich nicht wirklich. Wenn man die Handlung im Programmheft nicht gelesen hätte, wäre eher zu vermuten, dass Miranda während der Ouvertüre ihren großen Auftritt während der Trauerfeier vorbereitet, um endlich mit ihrem Vater abrechnen zu können. Im weiteren Verlauf wird die Geschichte mit einer stringenten Personenregie umgesetzt. Für die Masque, die die Schauspieler*innen während der Trauerfeier aufführen, setzen die Darsteller*innen über die schwarzen Gesichter Masken auf, mit denen sie ihren Rollen, Prospero, Ferdinand und wahrscheinlich Caliban zugeordnet werden. Bei den Masken handelt es sich um fotografierte Gesichter. Nur Miranda bleibt ohne Maske mit einem schwarz verhüllten Gesicht, gewissermaßen als Objekt der Männer, so wie die verschleierte Braut, die dieses Spiel leitet, ihr Gesicht zunächst nicht zeigt. Erst als Anthony das Spiel nicht mehr ertragen kann, gibt sich die verschleierte Braut ihrem Sohn als Miranda zu erkennen. Eindrucksvoll lässt Mitchell sie nach den ganzen Vorwürfen zwischen Wut und Hass auf ihren Vater und verzweifelter Sehnsucht nach Zuneigung schwanken. So umarmt sie ihren Vater plötzlich in der Hoffnung, dass er seine Vergehen einsieht. Doch Prospero bleibt stur und uneinsichtig. Erst als alle die Kirche verlassen haben und er mit seiner Frau allein ist, erlebt man eine Art Schuldeingeständnis. Ob er sich wirklich am Ende das Leben nehmen wird, lässt Mitchell offen. Miranda (Adriana Bastidas-Gamboa) sucht trotz allem die Nähe zu ihrem Vater Prospero (Alastair Miles, Mitte) (links: Pastor (John Heuzenroeder, rechts: Chor). Musiziert wird auf gutem Niveau. Für die musikalische Leitung des Gürzenich-Orchesters Köln ist der Barock- und Händel-Experte George Petrou verpflichtet worden, der mit viel Fingerspitzengefühl die unterschiedlichen Klangfarben der Musik Purcells herausarbeitet und mit der Musikauswahl Pichons auch die Vielseitigkeit des "Orpheus Britannicus" unterstreicht. So wird der sakrale Charakter der Trauerfeier genauso überzeugend eingefangen wie die von Miranda erzählte Geschichte, für die größtenteils Musiknummern aus Purcells Semi-Operas verwendet wird. Für Prospero hat Pichon vor allem Musik von Komponisten ausgewählt, deren Kompositionen älter als Purcell sind, um zu unterstreichen, dass seine Sicht auf die Geschichte aus einer anderen, früheren Zeit stammt. Der von Rustam Samedov und Bang-In Jung einstudierte Chor der Oper Köln, der auch Mitglieder des Internationalen Opernstudios enthält, überzeugt durch homogenen Klang. Adriana Bastidas-Gamboa gestaltet die Titelpartie mit einem warmem Mezzosopran, der in dramatischen Ausbrüchen die Verletzungen deutlich macht, die Miranda während ihrer Zeit auf der Insel erlitten hat. Darstellerisch begeistert sie durch intensives Spiel. Alastair Miles gibt ihren Vater Prospero mit dunklem Bass als gefühlskalten Mann, der sich bis zum Schluss nicht eingestehen will, welches Unrecht seiner Tochter widerfahren ist. Emily Hindrichs stattet die Partie seiner jungen Gattin Anna mit weichem Sopran aus, der den sanften Charakter der Figur unterstreicht. Eine optische Nähe zu ihrer Stieftochter, wie es im Text angedeutet wird, ist allerdings nicht zu erkennen. Ed Lyon und John Heuzenroeder runden das Ensemble als Ferdinand und Pastor überzeugend ab. Aufhorchen lässt auch Sebastian Scherer, Solist des Knabenchores der Chorakademie Dortmund, als Anthony mit jugendlich frischen Höhen. FAZIT Katie Mitchell erzählt eine bewegende moderne Geschichte zur Musik von Henry Purcell, die Raphaël Pichon dazu passend arrangiert hat, so dass mit dem Text von Cordelia Lynn eine "richtige " Semi-Opera entsteht. Nur der Bezug zu Shakespeares The Tempest wirkt dabei stellenweise arg konstruiert.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung Inszenierung Szenische Einstudierung Bühne Kostüme Licht Choreographie Einstudierung Chor Dramaturgie
Gürzenich-Orchester Köln Cembalo Chor der Oper Köln Solistinnen und Solisten*rezensierte Aufführung Miranda
Prospero Anna Ferdinand Pastor
Anthony Young Miranda Young Prospero Flower Women
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