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Wir sind das MeerVon Stefan Schmöe / Fotos von Kirsten Nijhoff"Es hat nichts mit dem Meer zu tun", wird Benjamin Britten von Regisseur Kay Link im Programmheft zu Peter Grimes zitiert. Das stimmt natürlich nicht; denn das Meer ist allgegenwärtig in dieser Partitur. Man hört es, wie es anbrandet, wie sich die Wellen sanft kräuseln oder der Sturm tobt. Benjamin Britten ist am Meer aufgewachsen, hat die meiste Zeit am Meer gelebt, und diese Oper ist letztendlich auch eine Hommage an das raue Leben an der Küste in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Und gleichzeitig geht es überhaupt nicht um das Meer, sondern um die Dorfgemeinschaft und den Außenseiter, und das kann irgendwo auf der Welt sein. Es geht um die Bedingungen des Zusammenlebens. Peter Grimes und das MeerIn den ersten Takten dieser Aufführung sieht - oder besser: ahnt - man auf der noch dunklen Bühne eine Menschenmenge, die in Wellenbewegungen nach vorne drängt. Damit setzt Regisseur Kay Link gleich zu Anfang den Rahmen für eine Inszenierung, die den symbolischen und den atmosphärischen Gehalt der Naturbilder geschickt ausbalanciert, dabei aber fern jeder romantischen Verklärung oder einer Seefahrerfolklore bleibt. Im Gegenteil: Die Fischerei ist für diese sehr heutige Gesellschaft längst Vergangenheit, sie wird bestenfalls zitiert beim Dorffest, das wie eine Mottoparty zu diesem Thema aufgezogen ist. Als Einheitsbühnenbild dient eine riesige leere Industriehalle (Bühnenbild: Dirk Becker), die jetzt offenbar als Dorfgemeinschaftshalle genutzt wird. Aber ein wirklich realer Raum ist auch das nicht, eher ein Assoziationsraum. Halbdurchsichtige Plastikvorhänge trennen in ein Drinnen und Draußen, wenn dahinter Gottesdienst gefeiert wird und davor die Lehrerin Ellen Orford mit Grimes' neuem Lehrjungen John am Strand sitzt. Das Meer erscheint ganz real in einigen Videosequenzen (Tilman König), und es klingt in den graugrünen Farbtönen der Halle nach. Die Menschen tragen heutige Kleidung in gedeckten Farben (Kostüme: Silke Wey), und man glaubt bei allen eingebauten Brüchen sofort: So könnte es aussehen in irgendeinem Dorf an der entlegenen englischen Küste. Fischer ist hier, eine böse Pointe, aber wohl nur noch einer, nämlich Peter Grimes - ein Spinner eben, der nicht lassen kann von einem längst abgewickelten Gewerbe und der nichts verstehen will von der neuen Zeit. Der infolge seiner Besessenheit womöglich nicht unschuldig ist am Tod seines ersten Lehrjungen. Für beide wäre eine Partnerschaft nur eine Erfüllung der Anforderungen, die von der Gesellschaft an sie herangetragen werden: Ellen Orford und Peter Grimes So wie in dieser Inszenierung das Meer gleichzeitig ganz nah und ganz fern ist, so verschränkt sie auch virtuos eine naturalistische Erzählweise samt genauer Milieustudie mit einer abstrakten, übergeordneten Deutung. Wenn Grimes den neuen Lehrjungen in der Hütte zum Aufbruch drängt (was zu einem tödlichen Unfall führen wird, dem zweiten in kurzer Zeit), dann wird Peter Grimes' Hütte auf einem improvisierten Podest aus Holzpaletten nur angedeutet wie eine kleine Bühne, und wie in einem Theater sitzen die anderen Außenseiterinnen um diese Szene herum: Ellen Orford, die mehr aus einem Helfersyndrom heraus denn aus Liebe diesen Peter Grimes retten möchte (Martina Welschenbach stellt sie als junge, attraktive Frau dar; ihre jugendliche, moderat dramatische Stimme bleibt durch relativ starkes Vibrato ein wenig zu sehr im Ungefähren). Und die Wirtin "Auntie" (fabelhaft in der Mischung aus auch stimmlicher Souveränität und Understatement: Karin Lovelius) und ihre beiden "Nichten", wie die Prostituierten der Form halber bezeichnet werden (ebenfalls ausgezeichnet: Dalia Besprozvany und Shira Patchomik). Die drei wissen um die Nöte der Männer und um die diffusen Randbereiche der bürgerlichen (Sexual-)Moral. Britten hat diesen vier Frauen ein wunderbares Quartett komponiert, das eine Distanz schafft zwischen ihnen und dem Mob, der Grimes lynchen will. Und sie singen es sehr eindrücklich. Peter Grimes und Lehrjunge JohnSexualität ist ja ohnehin das latente Subthema dieser Oper. Das Motiv des Knaben, hier in Gestalt des Lehrjungen John, zieht sich durch das Opernschaffen Brittens hindurch als kaum verhüllte Chiffre für Homosexualität. Der neue Lehrjunge John ist hier ein fast erwachsener junger Mann, der sich seiner Attraktivität durchaus bewusst ist. Auch Ellen Orford kann sich dem nicht entziehen (was ihr Verhältnis zu Grimes relativiert), und Grimes merkt man die Faszination an, ohne dass er in irgendeiner Form übergriffig wird. Im Video wird man später sehen, wie er in tiefer Trauer den toten Jungen im Arm hält (im Meer übrigens). Dieser Lehrjunge John ist hier eine unverkennbare Anspielung auf Tadzio, den Jungen aus Thomas Manns Tod in Venedig (die Novelle lieferte rund 25 Jahre nach der Komposition von Peter Grimes den Stoff für Brittens letzte Oper Death in Venice, womit sich der Kreis schließt). Die Regie sympathisiert mit Peter Grimes, die Zweifel an seiner Integrität bleiben hier schwach. Vielmehr scheint die Frage zu sein: Könnte man sich in diesem engen Kosmos offen zur Homosexualität bekennen, oder verlangt die Gemeinschaft eben doch traditionelle Rollenmodelle? Link inszeniert das unaufdringlich und fast nebenbei, aber eben durchaus sichtbar. Kapitän Balstrode, die vermeintliche moralische Instanz einer vergangenen Zeit, schickt Peter Grimes auf das Meer, um sich und sein Boot dort zu versenken. Ungemein eindrucksvoll gestaltet Brenden Gunnell die Titelpartie, singt und spielt einen zerrissenen, gehetzten Charakter, in seiner gedrungenen Gestalt einen Kopf kleiner als sein Lehrjunge John. Auch vokal gestaltet er die Partie mit unterdrückter Kraft, singt nicht strahlend oder "schön", aber mit großer Intensität. Sein Gegenspieler, musikalisch wie szenisch, ist der zahlenmäßig große Chor, der nicht nur ganz ausgezeichnet singt (Einstudierung: Thomas Eitler-de Lint), sondern auch sehr sorgfältig die geschickte Choreographie (Oliver Preß) umsetzt. Es kann auch sehr laut werden - Chefdirigent Christoph Gedschold am Pult des sehr guten Gewandhausorchesters macht da auch die Gewalt hörbar, die hier von der Menge ausgeht. Er dirigiert einen spröden und kantigen, ziemlich unromantischen Peter Grimes, manchmal durchaus sperrig. Auch in den Zwischenspielen bleibt die See rau - an impressionistischer Schönfärberei ist Gedschold nicht gelegen. In dieser Konstellation bleibt der Kapitän Balstrode, als einziger so etwas wie ein Freund von Grimes, als elegante Erscheinung in Kapitänsuniform ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Tuomas Pursio singt ihn tadellos und mit klar geführter Stimme und spielt ihn mit steifer Eleganz wie eine überkommene Instanz für Anstand - freilich in einer denkbar zwiespältigen Form, wenn er am Ende Grimes mehr befiehlt als überredet, sich mitsamt seinem Boot im Meer zu versenken. Das Meer erscheint ein letztes Mal als bildliches Zitat in einem Gemälde, das schnell aufgestellt wird. Das Meer, das aus den Menschen besteht, schaut dem Untergang emotionslos zu.
Die fesselnde und atmosphärisch dichte Inszenierung von Kay Link erzählt die Geschichte von der Küste sorgfältig nach und abstrahiert sie gleichzeitig zu einer Parabel, die überall spielen kann. Auch musikalisch sehr eindrucksvoll. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Video
Licht
Choreographie
Chor
Dramaturgie
Chor der Oper Leipzig
Peter Grimes
Ellen Orford
Balstrode
Auntie
1. Niece
2. Niece
Boles
Swallow
Mrs. Sedley
Pastor Adams
Ned Keene
Hobson
Der Junge (stumme Rolle)
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