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Hamlet mit "Happy End" Von Thomas Molke / Fotos: © V. Bianchi - ORW Liège Ambroise Thomas wird heutzutage als Komponist betrachtet, der an der romantischen Tradition des 19. Jahrhunderts noch festhielt, als man in Frankreich schon bereit war, neue Wege einzuschlagen. Deswegen stehen seine Werke nur noch relativ selten auf den Spielplänen der Opernhäuser. Am bekanntesten dürfte noch die berühmten Romanze "Connais-tu le pays" aus der Oper Mignon sein, die auf Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre basiert. Wie viele seiner Zeitgenossen hatte Thomas auch ein besonderes Interesse an dem englischen Dichterfürsten William Shakespeare. Schon bevor Thomas 1851 als Nachfolger Spontinis in die französische Akademie gewählt und wenige Jahre darauf zum Professor für Komposition am Conservatoire ernannt wurde, beschäftigte er sich mit dem Leben des Schwans von Stratford-Upon-Avon in der Opéra-comique Le songe d'une nuit d'été, einem Werk, das in einer fiktiven Geschichte von Elizabeth I. handelt, die Shakespeare darin zu seiner berühmten Komödie A Midsummernight's Dream inspiriert. 18 Jahre später widmete er sich dann Shakespeares wohl bedeutendstem Drama Hamlet. Ob er damit seinem Kollegen Charles Gounod nacheiferte, der ein Jahr zuvor mit den gleichen Librettisten Roméo et Juliette vertont hatte, kann nur gemutmaßt werden. Hamlet (Lionel Lhote) zwischen Ophélie (Jodie Devos, rechts) und seiner Mutter Gértrude (Béatrice Uria-Monzon, links) Das Libretto von Jules Barbier und Michel Carré unterscheidet sich inhaltlich in einigen Punkten von Shakespeares Tragödie. Auf den politischen Konflikt zwischen Dänemark und Norwegen wird verzichtet. Stattdessen spielt sich in der Oper lediglich ein Familien-Krimi ab, der wesentlich weniger Tote fordert als Shakespeares Original. Zwar geht auch hier Ophelia (Ophélie) nach einer großen Wahnsinnsszene ins Wasser. In der finalen Auseinandersetzung tötet Hamlet aber nur Claudius, den Mörder seines Vaters auf Geheiß des Geistes, der ihm auch im letzten Akt noch einmal erscheint, und wird anschließend von dem Geist seines toten Vaters zum neuen König gekrönt, während seine Mutter Gertrud (Gertrude) ins Kloster geschickt wird und nicht an einem giftigen Trank stirbt. Für eine Aufführung in London änderte Thomas das Ende ab und ließ den Titelhelden Selbstmord begehen. 1980 änderte Richard Bonynge bei einer Aufführung in Sidney den Schluss nach Vorgabe Shakespeares ab und ließ den Prinzen an dem mit Gift getränkten Degenspitze sterben, mit der ihn Ophélies Bruder Laertes (Laërte) verwundet. Auch wenn dieses Ende sicherlich treffender ist, spricht der hehre E-Dur-Akkord am Ende des Stückes inhaltlich eine ganz andere Sprache. Hamlet (Lionel Lhote) macht seiner Mutter Gertrude (Béatrice Uria-Monzon) Vorwürfe (links in der Projektion: Nicolas Testé als Claudius, rechts in der Projektion: Shadi Torbey als Geist). Das Regie-Team um Cyril Teste entscheidet sich, bei dem eher ungewöhnlichen "Happy End" zu bleiben. Dabei wird die komplette Geschichte wie eine Art Kinofilm gezeigt, bei dem das Geschehen auf der Bühne von einem Kameramann (Paul Poncet) aufgenommen und live auf eine Leinwand übertragen wird. Teilweise treten die Figuren auch durch den Zuschauerraum auf. In der Filmsequenz wird dann ihr Gang durch das Foyer bis auf die Bühne mit der Kamera verfolgt. Als Projektionsfläche für die Videoeinspielungen dient zum einen eine Leinwand, die den regulären Vorhang ersetzt. Hier wird auch jeweils der Beginn eines neuen Aktes angekündigt. Zum anderen wird ein riesiges weißes Tuch als Projektionsfläche benutzt, das über die Deckenführung in verschiedene Positionen gebracht werden kann und so auch immer neue Räume entstehen lässt. Hinzu kommen drei abstrakte Bühnenelemente von Ramy Fischler, die wie drei Rahmen einzelne Figuren hervorheben oder auch isolieren können. Die Kostüme von Isabelle Deffin sind dabei sehr modern gehalten. Hamlet (Lionel Lhote, vorne) und der Geist (Shadi Torbey, hinten) Bei einer modernen Umsetzung bleibt natürlich die Frage, wie man mit dem Erscheinen des Geistes verfährt. Dafür hat Teste eine gut funktionierende Lösung gefunden. Er lässt ihn im ersten Akt wie eine Art Regisseur aus dem Zuschauerraum agieren. So erscheint er dem Prinzen und seinen beiden Freunden Horatio und Marcellus, um Hamlet zu offenbaren, dass er von Claudius ermordet worden ist, und um seinen Sohn zur Rache am Königsmörder zu motivieren. Im dritten Akt greift er dann beim Streit zwischen Hamlet und seiner Mutter ein, um Hamlet zu ermahnen, Gertrude bei seinem Rachefeldzug zu verschonen. Hier ist es nur Hamlet, der ihn wahrnimmt. Am Ende taucht er dann für alle sichtbar aus dem Zuschauerraum auf und führt Hamlet bei der Rache an Claudius gewissermaßen die Hand. Hamlet tötet seinen Onkel nicht mit einem Schwert, sondern deutet ohne irgendeine Requisite an, dass er den Mörder seines Vaters ersticht. Wie von Zauberhand färbt sich das weiße Hemd von Claudius dabei blutrot. Während das Volk Hamlet als neuen König feiert, begibt dieser sich in einen Rahmen, weil er sich mit seiner neuen Rolle nicht wirklich anfreunden kann und immer noch um die tote Ophélie trauert. Im zweiten Akt nimmt Hamlet die Rolle des Regisseurs ein. Wenn er die Schauspieltruppe engagiert, um in einem Theaterstück seinen Onkel als Mörder zu überführen, läuft er mit Script über die Bühne, um Anweisungen zu geben. Die Pantomime des Schauspiels erfolgt dann zu einem für die damalige Zeit ungewöhnlichen Saxophon-Solo, das von Thibault Collienne eindrucksvoll auf der Bühne präsentiert wird. Schon allein deshalb kann man Thomas eigentlich nicht als reaktionären Traditionalisten bezeichnen, da er hier ein echtes Novum für das 19. Jahrhundert geschaffen hat. Dadurch dass das Schauspiel zum einen auf der Bühne stattfindet und zum anderen auf der Leinwand über der Bühne gedoppelt wird, wirkt es nicht nur für Claudius eindringlich, der seine eigene Tag im Spiel wiedererkennt und schließlich die Vorstellung abbricht. Dennoch gibt es auf der Leinwand einen richtigen Abspann mit Nennung der Darsteller*innen wie in einem richtigen Kinofilm, bevor die Geschichte ihren weiteren Verlauf nimmt. Ophélie (Jodie Devos) geht ins Wasser. Auf die Balletteinlage im vierten Akt vor Ophélies großer Wahnsinnsszene wird in der Aufführung verzichtet. Stattdessen konzentriert sich der Akt ganz auf die Figur der Ophélie, die von Jodie Devos stimmlich und darstellerisch großartig präsentiert wird. Mit frischem Sopran unterstreicht sie den mädchenhaften Charakter der Figur, die die Zurückweisung des Prinzen nicht verkraftet. Mit beweglichen Koloraturen lässt sie die große Wahnsinnsszene musikalisch zu einem Höhepunkt der Vorstellung werden. Die Videoprojektionen hinter ihr zeigen die Fluten, in denen sie sich anschließend ertränkt und lassen in bewegenden Bildern nachvollziehen, wie sie allmählich in den Wogen versinkt. Auch im großartigen Terzett mit Gertrude und Hamlet in drittem Akt punktet Devos durch bewegenden Ausdruck. Dass Thomas die Titelpartie für einen Bariton komponiert hat, mag verwundern, da man den leidenden Zweifler doch eher im Tenorfach verortet hätte. Doch Thomas hatte die Rolle für den berühmten Bariton Jean-Baptiste Faure vorgesehen. Und auch Lionel Lhote beweist, dass der Dänenprinz mit einem kräftig strömenden Bariton überzeugen kann. Für das glückliche Ende wirkt die tiefere Stimmlage sogar überzeugender, da man ihm eher abnimmt, Claudius zu besiegen und die Macht zu übernehmen. Auch die übrigen Partien sind gut besetzt. Nicolas Testé stattet den Königsmörder Claudius mit profundem Bass aus und begeistert darstellerisch, wenn er langsam von seinem schlechten Gewissen eingeholt wird. Shadi Torbey punktet als Geist mit dunklem Bass und enormer Autorität. Beeindruckend gelingt auch die Video-Projektion, in der er im leeren Zuschauerraum steht und immer näher an Hamlet auf der Bühne herangezoomt wird, bis Hamlet schließlich vor seinem überdimensional großen Kopf steht. Als gelungen kann auch der Wechsel zwischen den Bildern des Geistes und des Königsmörders bezeichnet werden, die in den Projektionen Hamlet verfolgen. Béatrice Uria-Monzon verfügt als Hamlets Mutter Gertrude über einen satten Mezzosopran und dramatische Höhen. Maxime Melnik, Laurent Kubla und Patrick Delcour runden das Ensemble in den kleineren Partien überzeugend ab. Der von Denis Segond einstudierte Chor der Opéra Royale de Wallonie-Liège punktet durch fulminanten Klang, wenn er durch den Saal auftritt, und große Spielfreude, wenn er bei der jeweiligen Königskrönung zu Beginn und am Ende der Oper die Kameras zückt und ein Blitzlichtgewitter erzeugt. Guillaume Tourniaire zaubert mit dem Orchester einen romantischen Klang aus dem Graben, der bei der Farbigkeit bedauern lässt, dass Thomas relativ selten auf den Spielplänen steht. So gibt es am Ende großen und verdienten Beifall für alle Beteiligten. FAZIT Cyril Teste findet einen abstrakten, dabei aber sehr überzeugenden Zugang zum Stück. Die romantische Musik hat ihre Meriten. Dazu passt sogar das Ende, auch wenn Shakespeare das sicherlich anders sähe.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung Bühnenbild Kostüme Licht Video-Design Chorleitung Künstlerische Mitarbeit Dramaturgie Kameramann
Orchester und Chor Saxophon
Solistinnen und SolistenHamlet Ophélie Gertrude Claudius Laërte Le Spectre Marcellus / Un fossoyeur Horatio / Un fossoyeur Polonius
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