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Leise rieselt der Schnee Von Thomas Molke / Fotos: © Tristram Kenton (Royal Opera House)
Giacomo Puccinis Oper La bohème gilt nicht nur als absolutes Meisterwerk
des Opernrepertoires. Sie wird von vielen Opernfans auch gerne als
"Einstiegsdroge" bezeichnet, die die Liebe zur Gattung zu wecken vermag. Schon
bei der Uraufführung 1896 war nur ein einziger Kritiker der Zeitschrift La
stampa der Meinung, dass diese Geschichte über die Liebe und Leidenschaft
einfacher und armer Leute keinen großen Eindruck beim Publikum hinterlassen
werde. Alle anderen erkannten sofort das Potenzial, das in diesem Werk steckte
und dazu führte, dass die Oper schnell einen beispiellosen Siegeszug um die
ganze Welt antrat. Das Royal Opera House, das seit 2008 Opern- und
Ballettaufführungen als Live-Streams in mehr als 1300 Kinos weltweit überträgt,
hat nun nach der durch Corona erzwungenen Pause in dieser Spielzeit wieder volle
Fahrt aufgenommen und bietet insgesamt 13 Produktionen der beiden Sparten Oper
und Ballett als Live-Erlebnis im Kino zu Preisen an, zu denen man in Covent
Garden wahrscheinlich gerade einmal einen Randplatz in den Upper Slips ergattern
würde. Dafür ist man zwar nicht wirklich live dabei, kommt den großen
Stars durch die Kameraeinstellungen jedoch näher, als das im Opernhaus möglich wäre.
Als zweite Opernproduktion steht nun die Wiederaufnahme von La bohème in der Regie von Richard Jones aus dem Jahr 2017 auf dem Programm.
Die Handlung der Oper basiert auf einem Fortsetzungsroman, in dem Henry Murger von März
1845 bis April 1849 in der Zeitschrift Le Corsaire Satan unter dem Titel
Scènes de la bohème in einer lockeren Folge von Erzählungen ein farbiges
Bild des Pariser Künstlermilieus entwarf, dem er selbst angehörte. Im November
1849 kam eine Bühnenversion unter dem Titel La vie de bohème im Pariser
Théâtre des Variétés heraus, die ebenfalls begeistert aufgenommen wurde, so dass
die 1851 überarbeitete Buchausgabe unter dem Titel Scènes de la vie de bohème
zu einem der populärsten Künstlerromane des 19. Jahrhunderts avancierte.
Puccini, der selbst seine Mailänder Studienzeit in ärmlichen Verhältnissen
verbracht hatte, war nicht der einzige, der eine Vertonung dieser Erzählung in
Angriff nahm. Auch Ruggero Leoncavallo zeigte sich von dem Stoff fasziniert und
ließ sich zu einer Oper inspirieren. Während sich Leoncavallo jedoch eng an die
literarische Vorlage hielt, betonten Puccinis Librettisten eher die Atmosphäre
als den Handlungsablauf. Leoncavallos Vertonung kam ein Jahr nach Puccini in
Venedig zur Uraufführung und konnte den Erfolg von Puccinis Oper niemals
erreichen.
Buntes weihnachtliches Treiben in Paris (Chor)
Die Inszenierung unterstreicht die Atmosphäre der Oper in eindrucksvollen
Bildern, ohne dabei im Kitsch zu ertrinken. So sieht man quasi während der
ganzen Zeit in den ersten drei Akten den Schnee aus dem Schnürboden
herabrieseln, der im Lichtdesign von Mimi Jordan Sherin die kalte und triste
Welt der armen Bohèmiens einfängt. Stuart Laing hat für die Künstlermansarde, in
der der Maler Marcello und der Dichter Rodolfo zu Beginn des ersten Aktes hausen
einen spartanischen Dachboden mit schrägen Holzbalken konzipiert. Hier ist
wirklich kein Requisit zu viel. Ein einsamer Stuhl, ein winziger Ofen und eine
riesige Kiste, die zu einem Tisch umfunktioniert werden kann, bilden das einzige
Mobiliar. Eine niedrige Tür führt in diese Mansarde, so dass man sich bücken
muss, um in diesen Raum zu gelangen. Auf eine Staffelei wird verzichtet. So malt
Marcello zu Beginn auf ein imaginäres Bild, während Rodolfo durch eine Dachluke
neidvoll auf die rauchenden Schornsteine der umliegenden Häuser blickt. Dieses
karge Bühnenbild verwandelt sich im zweiten Akt in ein farbenfrohes Treiben in
den Straßen von Paris. In opulenten Kostümen schlendert das Volk durch die
Straßen. Mehrere Arkaden zeigen kostbare Schaufensterdekorationen. Bei Momus
geht es dann sehr eng zu, so dass den Darstellerinnen und Darstellern nicht viel
Platz bleibt. Aber auch das passt wunderbar zum Libretto. Das dritte Bild nach
der Pause zeigt dann Paris in den frühen Morgenstunden von seiner traurigsten
Seite. Und immer noch rieselt der Schnee.
Es ist kalt im Winter in Paris (Chor).
Juan Diego Flórez ist als Star ein Zugpferd für diese Wiederaufnahme, auch wenn
man ihn weniger mit dem Verismo in Verbindung bringt und ihn eher im
Bereich des Belcanto verortet. Als Rodolfo zeigt er nun ganz neue Qualitäten.
Dabei legt er die Partie erfreulich weich an, so dass er in den Spitzentönen
absolut klar klingt. Die berühmte Arie "Che gelida manina" gestaltet er mit
tenoralem Charme, der nachvollziehbar macht, wieso Mimìs Herz von diesem Dichter
im Flug erobert wird. Auch darstellerisch punktet er bei seinem Flirt mit großem
Humor. Im dritten Bild nimmt man seinem intensiven Spiel ab, dass er es nicht
ertragen kann, die geliebte Frau leiden zu sehen und sich daher lieber von ihr
trennen möchte. Seine Klage Marcello gegenüber rührt dabei zu Tränen. Wenn er
Mimì am Ende dann wirklich verliert, hat man das Gefühl, dass er selbst echte
Tränen in den Augen hat. Gleiches gilt übrigens auch für Ailyn Pérez als Mimì.
Pérez begeistert mit wunderschönen lyrischen Bögen und großer Strahlkraft in den
Höhen, die aber dennoch eine gewisse Zerbrechlichkeit besitzen, in der Mimìs
Krankheit durchschimmert. Mit mädchenhafter Leichtigkeit präsentiert Pérez die
berühmte Arie "Mi chiamano Mimì" und läuft mit Flórez beim berühmten "O soave
fanciulla" zu Höchstform auf. Die zarten besungenen Gefühle stehen im großen
Kontrast zum dramatischen Duett "Addio... Che! Vai?" im dritten Bild, in dem sie
nach der zwischenzeitlichen Trennung beschließen, doch noch bis zum Frühling
zusammen zu bleiben. Der schleichende Tod Mimìs im vierten Bild rührt durch
Pérez intensives Spiel zu Tränen.
Musetta (Danielle de Niese) in ihrem Element
Einen großartigen Kontrast zu Flórez und Pérez bieten Andrey Zhilikhovsky und
Danielle de Niese als Marcello und Musetta. Zhilikhovsky arbeitet mit profundem
Bariton die unterschiedlichen Seiten des Malers glaubhaft heraus und überzeugt
einerseits als aggressiv eifersüchtiger Liebhaber, der sich von der
lebenslustigen Musetta ständig provozieren lässt, und als einfühlsamer Freund
andererseits, der sich das karge Leben in der Mansardenwohnung mit Rodolfo und
den anderen durch manchen komischen Schabernack vertreibt, an dem Leid Mimìs
jedoch genauso verzweifelt wie sein Freund Rodolfo. Danielle de Niese gibt
Musetta als absolutes Vollblutweib und zieht mit einer enormen Bühnenpräsenz
nicht nur die Aufmerksamkeit der anderen Männer auf der Bühne auf sich. Zu einem
musikalischen und szenischen Höhepunkt avanciert ihre große Arie "Quando me'n vo",
mit der sie schließlich den eifersüchtigen Marcello zurückgewinnt. Im dritten
Bild fliegen dann regelrecht die Fetzen zwischen den beiden. So intensiv hört
man das Quartett selten, in dem sich Rodolfo und Mimì erneut ihre Liebe schwören
und Marcello und Musetta einen riesigen Streit vom Zaun brechen, weil Musetta
erneut mit einem anderen Mann geflirtet hat. Wenn Marcello am Ende des Streits
Musetta die Koffer vor die Tür stellt und Musetta einsam von dannen zieht, wirkt
sie fast so gebrochen wie Mimì und Rodolfo. Im vierten Bild zeigt de Niese
eindrucksvoll, dass Musetta auch zu echten, ernsten Gefühlen fähig ist und
opfert ihre Ohrringe, um der sterbenden Mimì den Muff zu kaufen.
Ross Ramgobin und Michael Mofidian runden als Schaunard und Colline die
zentralen Partien der Oper überzeugend ab. Ramgobin gibt dabei den Musiker mit
markantem Bassbariton und komödiantischem Spiel. Mofidian punktet im letzten
Bild mit sonorem Bass in der berühmten Mantel-Arie "Vecchia zimarra, senti".
Auch die kleineren Partien und der Chor sind gut besetzt. Kevin John Edusei
lässt mit dem Orchestra of the Royal Opera House ebenfalls keine Wünsche offen.
Vor der Aufführung und in der Pause gibt es auch noch interessante Interviews
hinter der Bühne. Da kommen neben den Solist*innen und dem Dirigenten auch noch
eine Repetitorin zu Wort, die über ihre Arbeit bei der Neueinstudierung
berichtet. Besonders charmant ist die Einführung des Musikdirektors des Royal
Opera House, Antonio Pappano, der am Klavier wunderbar verständlich die
unterschiedlichen Motive der Oper mit einer Liebe zum Detail herausarbeitet, die
den Genuss des Meisterwerkes anschließend noch größer machen.
FAZIT
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Produktionsteam
Musikalische Leitung Regie Wiederaufnahme-Regie Bühnenbild und Kostüme Lichtdesign Choreographie Chor
Orchestra of the Royal Opera House Royal Opera Chorus BesetzungMimì Rodolfo Marcello Musetta Schaunard Colline Benoît Parpignol Alcindoro Customs Officer Sergeant
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- Fine -