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Auf dem Hochseil über Schlachtfeldern
Von Joachim Lange /
Fotos von
Wilfried Hösl
Seit Serge Dorny an der Bayerischen Staatsoper in München das Sagen hat, ist die jüngste Produktion wohl die bislang größte und heikelste Herausforderung. Und das nicht allein, weil Sergej Prokofjews Oper Krieg und Frieden musikalisch und szenisch ein Blockbuster der Extraklasse ist, der es, trotz beherzter Striche, auch in München noch (mit einer vierzigminütigen Pause) auf über vier Stunden Bruttospielzeit bringt. Allein die Skizze der Uraufführungsgeschichte im Programmbuch deutet darauf hin, dass es sich um ein Werk aus der Kategorie "unvollendetes Schmerzenskind" handeln mag: Von der ersten Fassung in elf Bildern wurde am 7. Juni 1945 im Moskauer Konservatorium neun Bilder konzertant aufgeführt, die erste szenische Aufführung gab es 1948 im Nationaltheater Prag. Von der zweiteiligen Fassung wurde am 12. Juni 1946 im Maly-Theater Leningrad der erste und am 4. Dezember 1948 der zweite Teil aufgeführt. Die dritte Fassung in zehn Bildern erlebte am 26. Mai 1953 im Teatro Communale in Florenz die erste Aufführung und eine vierte schließlich am November 1957 im Stanislawski-und-Nemirowitsch-Dantschenko- Musiktheater in Moskau. Jede Uraufführung war mit einer veränderten politischen Großwetterlage konfrontiert. Das war also schon damals nicht anders als heute.
Andrei Zhilikhovsky als Fürst Andrej und Arsen Soghomonyan als Graf Besuchow
Im Graben verlangt dieser Opern-Blockbuster vor allem dem Mann im Pult Vladimir Jurkowski gleichsam Feldherrenqualitäten ab, wenn der nicht nur sein Bayerisches Staatsorchester, sondern auch die gewaltigen von David Cavelius einstudierten Chormassen im Griff behalten will. Was dem russischen GMD der Bayerischen Staatsoper mit der gefühligen Sensibilität für die tragische love story zwischen Fürst Andrej und der schönen Natascha schon im ersten Teil gelingt. Aber auch im zweiten mit all dem martialisch hereinbrechenden Kriegsgetöse, das Napoleons Marsch auf Moskau mit sich bringt. Meistens gelingt ihm das auch bei den patriotischen Chören, denen die Regie zur bühnenfüllenden Tableauformation oft ein exzessiv individuelles Bewegungsprogramm verordnet. Es ist schon eine faszinierende Leistung, wenn da keiner der fast 50 durchweg exzellente Protagonisten nicht abhanden kommt, sondern sich jeder nicht nur mit vokalen Glanzleistungen, sondern auch szenisch angemessen profilieren kann. Olga Kulchynska als Natascha Rostowa Wer nach dem Kriegsausbruch vor über einem Jahr an der Entscheidung für dieses Stück festhält, gibt damit per se auch ein Statement gegen jene Cancel-Culture-Aktivisten, die eine Verbannung russischer Kunst (und Künstler) mit Solidarität mit der auf Befehl des Kremlherrn überfallenen Ukraine verwechseln. Prokofjew ist der Komponist, der 1953 am selben Tag wie Stalin starb. Dieser 5. März ist 70 Jahre später auch der Tag der Münchner Premiere. Die Oper nach Tolstois berühmter Romanvorlage ist ein Paradebeispiel für patriotische Mobilmachung, wenn ein Eroberer aus dem Westen bis Moskau vorzudringen versucht und wie zurzeit von Putin das Wir-gegen-den-Westen zur Staatsdoktrin erhoben wird. In Zeiten, in denen die Russen ihrerseits die historische Rolle des Eroberers einnehmen (und als Verteidigung deklarieren), ist es eine besondere Herausforderung, die szenische Vorlage zu liefern, die jedem Zuschauer seine eigene, sozusagen dialektische Wende dieser Geschichte im Kopf ermöglicht. Im Klubhaus der Gewerkschaften findet sich auch ein Porträt des Komponisten. Dimitri Tcherniakov gelingt das. Er verlegt (wie immer auch als sein eigener Bühnenbildner) das Geschehen in den berühmten Säulensaal des Moskauer Hauses der Gewerkschaften. Es ist der wohl geschichtsträchtigste Saal Russlands. Der Ort von Kongressen, Lenin-Reden, Schauprozessen und Aufbahrungen von führenden Leichen; Lenin, Stalin und etliche von deren Nachfolgern (zuletzt Gorbatschow) in der Realität, der von Kutusow im Stück. Dass dieser berühmte Saal auf der Bühne die Anmutung einer Notunterkunft für Flüchtlinge (oder Bedrängte) von heute hat, ist wohl die finsterste Pointe der Vergegenwärtigung der historischen Vorlage, mit der Tcherniakov Position bezieht. Dass hier alle die Geschichte von Fürst Andrej und Natascha, den Kampf gegen Napoleon und dessen Anmaßung quasi nachspielen, schafft die nötige Distanz, um der Geschichte zu folgen. Dass sie alle diesem Spiel nicht entkommen, fügt der Distanz eine Irritation hinzu, die zum Nachdenken über die Wirkung von Krieg an sich zwingt. Insofern ist auch das, was nicht völlig gelungen scheint, Teil des Gelingens. Moskau brannte, als Napoleon einmarschierte. Von den vielen Solisten können nur einige erwähnt werden - verdient hätten es alle. Allen voran Andrei Zhilikhovsky als Andrej, der mit kernigem, warm timbriertem Bariton als Sympathieträger für sich einnimmt, und Olga Kulchynska, die die Wandlung der Natascha vom flatterhaften jungen Mädchen zur gereiften Frau mit jugendlicher Leichtigkeit verkörpert. Herausragend auch Arsen Soghomonyan als klug reflektierender Graf Pierre Besuchow. Auch Stars wie Violeta Urmana undSergei Leiferkus sind in kleineren Rollen mit von der Partie. Die Oper in München bietet für jede Rolle auf, was Rang und Namen hat, und macht damit ihrem Ruf alle Ehre. Im Detail bleibt die Liebesgeschichte im Stück szenisch oft isoliert. Packend allerdings der verzweifelte Versuch Nataschas, mit dem tödlich Verwundeten noch einmal in der Walzerseligkeit von einst zu schwelgen. Durchweg stark gelingen die nachgespielten bzw. echten Ausbrüche von kollektiver Aggression bis hin zur Überzeichnung. Dass der Krieg allemal das Gegenteil von Vernunft und Zivilisation ist, wird so offensichtlich. FAZITTcherniakov hat sich mit dieser Regie auf ein Hochseil begeben und ist nicht abgestürzt. Die einhellige Zustimmung des Premierenpublikums ist der verdiente Lohn. Der Jubel für das exzellente Ensemble und Jurowski und seine Musiker ist es sowieso. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung und Bühne
Kostüme
Licht
Kampfcoach
Chöre
Konzeptionelle Mitarbeit
Dramaturgie
Solisten
Fürst Andrej Bolkonski
Natascha Rostowa
Sonja
Gastgeber des Silvesterballs/ De Beausset/ Ein Gottesnarr
Lakai des Silvesterballs/ Kaisarow
Marja Dmitrijewna Achrossimowa
Peronskaja/Händlerin
Graf Ilja Andrejewitsch Rostow
Graf Pierre Besuchow
Gräfin Hélène Besuchowa
Anatol Kuragin
Leutnant Dolochow
Ein alter Lakai der Bolkonskis/ Ein Gottesnarr
Stubenmädchen der Bolkonskis
Kammerdiener der Bolkonskis
Fürstin Marja Bolkonskaja
Fürst Nikolai Andrejewitsch Bolkonski/ Matwejew
Balaga
Matrjoscha
Dunjascha
Gawrila
Métivier/ Marschall Bertier
Französischer Abbé
Denissow
Tichon Schtscherbaty
Fjodor/ Adjudant des Generals Compans/ Iwanow
Wassilissa/ Mawra Kusminitschna
Trischka
Michail I. Kutusow
Erster Stabsoffizier/ Gérard
Zweiter Stabsoffizier/Hauptmann Jacqueau
Napoleon
General Belliard/ Marschall Davout
Adjutant des Fürsten Eugène/ Ein junger Fabrikarbeiter
Stimme hinter den Kulissen/ Leutnant Bonnet
Adjutant aus dem Gefolge Napoleons
Hauptmann Ramballe
Leutnant Bonnet
Hauptmann Jacqueau
Gérard
Ein junger Fabrikarbeiter
Ein französischer Offizier
Platon Karatajew
Zwei französische Schauspielerinnen
Erster deutscher General
Zweiter deutscher General
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