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Abnutzungserscheinungen der Liebe
Von Stefan Schmöe / Fotos von Svetlana Loboff / Opéra national de Paris Wenn Manon im ersten Akt die Bühne betritt, im blassblauen Kleid, und sich dann auf die Fußspitzen stellt, dann wirkt sie so federleicht, als würde sie im nächsten Moment davonschweben. Wie ein junger Vogel, der sein Nest verlässt. Die zerbrechlich anmutende Ludmila Pagliero macht das großartig, wobei: Sie macht eigentlich nichts. Sie steht einfach da, fragil auf Spitze. Und der Moment gehört ihr, ein junges Mädchen im Begriff, die Welt zu erobern. (Wobei die ausgezeichnete Soloflötistin des Orchesters auch einiges zur Wirkung beiträgt.) Wenn Manon im zweiten Akt ganz ähnlich auf den Fußspitzen steht, dann schwankt sie, fast unmerklich, aber die Leichtigkeit der Heranwachsenden ist dahin. Da hat sie ihre erste große Liebe, den treuen Studenten Des Grieux, für den schwerreichen Herrn G. M. verlassen, und mehr noch: Sie hat ihre Erfahrungen gemacht. Im dritten Akt ist die Fußspitze der Punkt, um den sie gedreht werden kann, nach Belieben (nur nicht nach eigenem). Aus der Geste des zarten Anfangs ist ein mechanisches Prinzip geworden. Manon hat auf ganzer Linie verloren. Wenn man Ludmila Pagliero etwas vorwerfen kann an diesem Abend, dann vielleicht, dass sie diesen dritten Akt ein wenig zu einseitig die gebrochene Frau darstellt, die in den Erinnerungsmomenten (zu) wenig kämpft. Anrührend in ihrem Untergang ist sie allemal.
Kenneth MacMillan hat 1974 Manon für das Royal Ballet in London kreiert (1990 wurde das Werk dann unter dem Titel L'histoire de Manon in das Repertoire der Pariser Oper übernommen), mit Musik von Jules Massenet. Der hatte ja eine bis heute ziemlich erfolgreiche Oper mit dem gleichen Sujet und Titel komponiert, aber die hat MacMillan konsequent ignoriert und andere Werke des Komponisten geplündert und von Leighton Lucas arrangieren und, wo notwendig, orchestrieren lassen (2011 erschien die auch in der hier besprochenen Aufführung verwendete Neufassung von Martin Yates). Die Handlung ist der Novelle Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut von Antoine-Françoise Prévost aus dem Jahr 1731 entnommen, auf der auch schon die Oper von Massenet (und auch Manot Lescaut von Puccini) basiert. Manon, aus einer verarmten Familie stammend, finanziert ihren luxuriösen Lebensunterhalt durch sexuelle Gefälligkeiten gegenüber betuchten älteren Herren, die sie auch jenseits der Legalität ausnimmt; als Prostituierte wird sie schließlich verhaftet und in die amerikanischen Kolonien deportiert. Der hoffnungslos in sie verliebte Des Grieux folgt ihr dorthin, und am Ende stirbt sie erschöpft in seinen Armen. Ringen um das Glück: Manon und Des Grieux (im Bild: Myriam Ould Braham und Mathieu Ganio)
MacMillan erzählt im Wesentlichen stringent die Geschichte, die immer wieder von Genreszenen gerahmt ist. Diese großen Tableaus erscheinen dabei mitunter wie Wimmelbilder, bei denen auch am Rand allerlei passiert - darin zeigt sich MacMillans Bedürfnis nach einer mitunter auch überzogenen Realität. Der Tanz will durch die Handlung motiviert sein. Das freilich ließe sich aus heutiger Sicht sicher konzentrierter und mit weniger Hang zum Dekor ausgestalten, zumal die in der Mitte des 18. Jahrhunderts angesiedelten Kostüme eben doch ein wenig plüschig geraten sind (Ausstattung: Nicholas Georgiadis). Massenets schöne Musik, vom ausgezeichneten Orchestre de l'Opéra national de Paris unter der Leitung von Pierre Dumoussaud mit viel Sinn für die betörenden Klangwirkungen gespielt, fängt das gut auf. Man kann sich in diese Musik verlieren in ihrem eleganten Fluss, in der Weichheit des Streicherklangs und den delikaten Holzbläsern.
Das Bühnenbild setzt der luxuriösen Opulenz in den Kostümen eine Welt der Armut gegenüber, symbolisiert durch große Vorhänge aus Lumpen und zerschlissenen, dunklen Tüchern. Damit ist optisch die soziale Fallhöhe angezeigt, vor der Manon ihre Entscheidungen treffen muss. Ein winziger Hauch von der Beggar's Opera und damit Brecht's Dreigroschenoper liegt in der Luft: Erst kommt das Fressen (auf Manon bezogen muss man wohl formulieren: das feine Speisen), dann kommt die Moral. Wobei MacMillan seinerzeit durchaus aneckte mit der zwielichtigen Hauptfigur, die sich immerhin frei entscheidet für den Luxus und gegen den treuen Des Grieux. Natürlich bleibt das Sujet mit seiner Verankerung im vorrevolutionären Frankreich trotzdem ein Historienschinken, aber bei der Betrachtung der pas de deux wird eben auch eine andere Sichtweise deutlich. Den ersten tanzen Manon und Des Grieux überschwänglich und himmelstürmend und wissen gar nicht wohin vor lauter Liebe, und am Ende sitzen sie ganz unballettmäßig am Boden, im langen Kuss versunken. Wenn Des Grieux sie aus den Händen ihres reichen "Gönners" zurückerobert hat, stockt ihr Tanz, die Figuren brechen immer wieder ab, und die gesuchte Leichtigkeit will sich nicht mehr einstellen. Erst recht scheitert das letzte Aufbäumen im dritten Akt, wenn Des Grieux erneut seine Manon in höchste Höhen heben möchte, sie aber nach jedem Aufschwung nach einem winzigen Moment die Körperspannung aufgibt und erschlafft. Die Liebe hat keine Zukunft mehr. Damit gewinnt die Choreographie eine tiefere Wahrheit jenseits der vorrevolutionären Geschichte. Marc Moreau tanzt den Des Grieux mit beinahe sachlicher Eleganz und unterdrücktem Pathos. (Für die 20 Aufführungen en suite sind die Hauptpartien übrigens sechsfach besetzt.) Am Ende ist die Liebe Mechanik statt Leidenschaft: Manon und Des Grieux (im Bild: Myriam Ould Braham und Mathieu Ganio)
Ein Gegenbild zu Des Grieux' gescheitertem naivem Ideal der Liebe bieten Manons Bruder (raumfordernd forsch und vital: Francesco Mura) und dessen Mätresse (virtuos kokett und gleichzeitig bis zur Selbstaufgabe opferbereit: Silvia Saint-Martin), in deren pas de deux die Frau zum Objekt des Mannes wird, in ihren Bewegungen und Drehungen seinen Impulsen (und letztendlich seiner Gewalt) unterworfen. Die Partien des Monsieur de G.M. (Grégory Dominiak) und der "Madame" (Laure-Adélaïde Boucaud), hinter deren Pariser Salon sich ein Edelbordell verbirgt, hat MacMillan kaum ausformuliert - die beiden bleiben Kostümträger. Da stößt das Modell des Handlungsballetts dann doch an seine Grenzen. In der Einstudierung von Karl Burnett tanzt das Ensemble, auch immer wieder solistisch oder in kleinen Formationen gefordert, eindrucksvoll.
In den Schlüsselszenen wächst MacMillans fast 50 Jahre alte Manon über das nette Handlungsballett in historischen Kostümen, orchestral sehr schön begleitet, hinaus zur berührenden Parabel über die Unmöglichkeit von Liebe. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Choreographie
Einstudierung
Ausstattung
Licht
Solisten
Manon
Des Grieux
Lescaut, Manons Bruder
Lescauts Mätresse
Monsieur de G.M.
Madame
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