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Ein afrikanisches Tanzwunder
Von Stefan Schmöe
Eigentlich sollte Das Frühlingsopfer (Le sacre du printemps) in der legendären Choreographie von Pina Bausch aus dem Jahr 1975 bereits 2020 im Senegal aufgeführt werden, einstudiert in Zusammenarbeit mit der dortigen École des Sables mit einem Ensemble aus Tänzerinnen und Tänzern aus 13 afrikanischen Ländern. Der Ausbruch der Corona-Pandemie bereitete dem ein abruptes Ende. Dokumentiert ist das Projekt in dem auch in den Kinos gezeigten Film Dancing Pina von Florian Heinzen-Ziob, der etwas plakativ das Projekt einer Einstudierung von Glucks Iphigenie auf Tauris in der Regie und Choreographie von Pina Bausch (1974) an der Dresdener Semperoper gegenüberstellte. Inzwischen ist die Produktion fertig gestellt und um die Welt getourt - und erlebt nun auch seine Premiere in Wuppertal, der künstlerischen Heimat der Choreographin. Wobei die Musik vom ausgezeichneten Sinfonieorchester Wuppertal live gespielt und unter der Leitung des jungen Generalmusikdirektors Patrick Hahn ausgesprochen nuanciert, nie lärmend, aber scharf in den Ausbrüchen und mit körperlich erfahrbarer Wucht interpretiert wird. Das Frühlingsopfer: Ensemble (Foto: © Ursula Kaufmann)Die Frauen in weißen Kleidern (die zunehmend verschwitzt ihre Reinheit verlieren), die Männer in dunklen Hosen mit entblößtem Oberkörper, alle barfuß im Torfboden (Bühne: Pina Bauschs genialer Partner Rolf Borzik) - so entwickelt sich ein archaischer Kampf der Geschlechter, bei dem das Opfer im roten Kleid (ganz großartig charismatisch mit schlackernden Armen und mit explosiver Energie: Luciény Kabraal) sich bis an die physischen Grenzen verausgabt - es geht eben um alles. Das Ensemble tanzt mit ungeheurer Intensität und hoher Präzision. Natürlich ändert sich die strenge Choreographie nicht, nur weil die Tänzerinnen und Tänzer aus einem anderen Kontinent kommen, der gemeinhin wenig mit der europäischen Balletttradition verbunden ist, aber die Produktion weitet noch einmal die Perspektive. Hier tanzen Menschen, die in der Regel nicht die klassische europäische Ballettausbildung durchlaufen haben, und das befreit die Choreographie noch ein Stück weiter aus dem Kontext der Rezeptionsgeschichte des Werkes, dessen Uraufführung 1911 in Paris den vielleicht größten Theaterskandal der europäischen Theatergeschichte auslöste. Vielmehr zeigt sich in dieser Neueinstudierung die Universalität von Tanz. Pina Bauschs Sacre auf Torfboden mit dem Gegenüber von Männern und Frauen bleibt eine Jahrhundertchoreographie, und hier wird sie atemberaubend und mit urwüchsiger Kraft aufgeführt. Das Frühlingsopfer: Amadou Lamine Sow, Ensemble (Foto: © Oliver Look)
Das Frühlingsopfer (Le sacre du printemps) wird seit langer Zeit gekoppelt mit Café Müller aus dem Jahr 1978. Von allen Bausch-Stücken hat dieses die engsten Bezüge zur Biographie der Choreographin, die als Gastwirtstochter aufwuchs (was sicher in die Konzeption eines Café-Raums hineingespielt hat) und lange Zeit in diesem Werk selbst tanzte. Eine Frau geht mit geschlossenen Augen, die Hände in einer Geste von Hilflosigkeit ausgestreckt, durch einen menschenleeren, dunklen Gastraum, immer gefährdet durch die vielen Kaffeehausstühle, die ein Mann hektisch aus dem Weg schlägt, um sie zu schützen. Eine zweite Frau bewegt sich ganz ähnlich im Hintergrund. Später wird eine dritte, rothaarige Frau durch den Saal trippeln, auf komisch andere Weise (und auf andere Weise verloren). An diesem Abend (die Besetzung wechselt zwischen den sieben - durchweg ausverkauften - Aufführungen dieser Serie) tanzen Tsai-Chin Yu (mit sanfter Verletzlichkeit) und Taylor Drury (sie sieht der jungen Pina Bausch verblüffend ähnlich) eindrucksvoll; Dean Biosca räumt virtuos die Stühle aus dem Weg; Christopher Tandy agiert als überforderter Liebhaber und Tröster; Ekaterina Shushakova als Rothaarige und Reginald Lefebvre als unbeteiligter Gast geben so etwas wie Normalität ab, die in diesem Kontext alles andere als normal erscheint. Café Müller: Taylor Drury (Foto: © Ursula Kaufmann)Die melancholischen, zum Teil tieftraurigen Arien aus Henry Purcells The fairy queen und Dido and Aeneas legen eine verhangen melancholische Stimmung über die geisterhafte Szenerie. In kleiner Besetzung (mit beeindruckender Solo-Oboe) spielen die Wuppertaler Sinfoniker filigran und mit fragilem kammermusikalischem Duktus. Patrick Hahn leitet umsichtig vom Cembalo aus. Ralitsa Ralinova, ein paar Tage zuvor noch als fulminante Rigoletto-Gilda am gleichen Ort zu hören, singt mit auch im Pianissimo intensivem und leuchtendem Sopran betörend schön (Johann Kristiansson, der nur eine Arie zu gestalten hat, bleibt im Vergleich dazu ein wenig pauschal). Die Suggestivkraft der oft zwischen Hilflosigkeit und Zärtlichkeit changierenden Bilder ist ungebrochen und zeitlos. Café Müller erzählt in immer wieder berührender Form viel über Verletzlichkeit und auch Einsamkeit. Café Müller: Dean Biosca, Christopher Tandy, Tsai-Chin Yu (Foto: © Oliver Look)
Das Bindeglied zwischen Café Müller, mit dem der mehr als dreistündige Abend (in diesem Fall durch einen technischen Defekt in der zweiten Pause noch unfreiwillig verlängert) eröffnet wird, und dem alles und alle mitreißenden Sacre du printemps am Ende ist common ground[s], ein Zwei-Personen-Stück (uraufgeführt 2021) von und mit Germaine Acogny und Malou Airaudo. Germaine Acogny, geboren 1944 in Benin und aufgewachsen im Senegal, gilt als Begründerin des modernen afrikanischen Tanzes. Mit ihrem Ehemann Helmut Vogt gründete sie 1998 nahe Dakar die Ecole des Sables (an der Le sacre du printemps einstudiert wurde), ein Zentrum für traditionellen und modernen afrikanischen Tanz. Malou Airaudo (geboren 1948) gehörte von der Gründung 1973 an zu Pina Bauschs Wuppertaler Tanztheater, tanzte in der Uraufführung von Café Müller und später das Solo im Frühlingsopfer (und danach viele weitere wichtige Partien im Werk Pina Bauschs). Die beiden großen alten Damen arbeiten seit 2019 zusammen, zunächst im Senegal. Daraus ist ein etwa 40-minütiges Duett der überwiegend kleinen und zarten Gesten entstanden. common ground[s]: Malou Airaudo (links) und Germaine Acogny (Foto: © Oliver Look)Man sieht die beiden nebeneinandersitzen, auch gegenüber, sie halten einen langen Stab - mal gemeinsam, mal jede einen. Daraus entwickeln sich archaisch anmutende Bilder, die man in ihrem Verzicht auf jegliche Accessoires der Moderne und der europäischen Kultur eher mit der zentralafrikanischen Tradition in Verbindung bringt. Die abgeklärte Choreographie, die auf kleine Bewegungen reduziert ist, hat einen langen Atem, entwickelt sich wie ein ruhiges Gespräch über das Leben und die Welt, mal miteinander, mal (maßvoll) gegeneinander, immer mit unendlichem Respekt für die andere und in souveränem Gleichgewicht der beiden charismatischen Darstellerinnen. Sie horchen am Körper der anderen. Ihr Alter verbergen sie nicht, im Gegenteil. Die unaufdringliche, von traditioneller afrikanischer Musik inspirierte Komposition von Fabrice Bouillon LaForest für Kammerensemble (anders als bei den beiden anderen Choreographien vorab aufgenommen und in der Aufführung zugespielt) schmiegt sich wie ein Naturlaut an die Protagonistinnen an, umgibt sie wie eine schützende Hülle. Das Stück ist in seiner Andersartigkeit, in seiner Abgrenzung zur Ästhetik Pina Bauschs (wobei das Wissen darum natürlich tiefe Spuren hinterlassen hat) auch zu einer Liebeserklärung an Afrika geworden. An den Sog, mit dem das junge afrikanische Ensemble im Anschluss daran zu Igor Strawinskys Musik alles andere vergessen lässt - auch die hauseigene Bausch-Compagnie im Café Müller - reicht das freilich nicht heran.
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ProduktionsteamCafé Müller
Inszenierung und Choreographie
Bühne und Kostüme
Mitarbeit
Probenleitung
Musikalische Leitung
Solisten* Besetzung der rezensierten Aufführung
Sopran
Bass
Tänzerinnen und Tänzer
common ground[s]
Choreographie
Kostüme
Lichtdesign
Dramaturgie
Musikalische Leitung
Tonmeister Musiker*innenAdam Davis, KontrabassCarlota Margarida Ramos, Kontrabass Ana Catarina Pimental Rodrigues, Cello Mariana Silva Taipa, Cello Wei-Chueh Chen, Viola Alejandro Vega Sierra, Viola Nicolas Lopez, Violine Ana Maria Sandu, Violine Alexandru-Adrian Semeniuc, Violine Fabrice Bouillon LaForest, Keyboard Die Musik zu common ground[s] wurde vorab aufgezeichnet und elektronisch eingespielt. Uraufführung: September 2021, Madrid SolistenGermaine AcognyMalou Airaudo Das Frühlingsopfer
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