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Fest der Stimmen mit beeindruckenden Videoprojektionen
Bevor die Intendanz von Berthold Schneider zum Ende dieser Saison endet, werden
noch einmal eine Reihe der Produktionen aus den sechs vergangenen Spielzeiten
wieder aufgenommen, in denen Schneider die Geschicke des Hauses geprägt hat. So
steht als zweite "Premiere" eine Neueinstudierung einer konzertanten Aufführung
von Jules Massenets Oper Werther auf dem Programm, mit der 2018 die
Saison in der Historischen Stadthalle eröffnet wurde (siehe auch
unsere Rezension von 2018). Dass bei dieser
Neueinstudierung im Opernhaus zahlreiche Plätze frei bleiben, mag mehrere Gründe
haben. Zum einen haben gerade die Herbstferien begonnen, so dass sich vielleicht
bereits ein Teil des Publikums im Urlaub befindet. Zum anderen ist die
Anfangszeit 16.00 Uhr selbst für einen Sonntag ungewöhnlich. An der großartigen
Besetzung kann es jedoch keinesfalls gelegen haben. Da wartet Wuppertal nämlich
mit einem Fest der Stimmen auf, und das allesamt aus den eigenen Reihen des
Ensembles. Des Weiteren zählt die Oper neben Manon zu den größten
internationalen Erfolgen des französischen Komponisten.
Der Weg bis zur Uraufführung des zu einem lyrischen Drama umgewandelten
Briefroman war allerdings ziemlich steinig. Nachdem bereits einige Komponisten
in Opern und Balletten den Werther-Stoff für die Bühne in Paris adaptiert
hatten, plante auch Massenet, 1887 eine Vertonung an der Opéra comique
herauszubringen. Doch Léon Carvalho, der dortige Operndirektor, lehnte das Stück
als zu melancholisch ab. Als das Haus dann auch noch im gleichen Jahr abbrannte,
wurden Massenets Hoffnungen zunächst zunichte gemacht. Doch als er ein paar
Jahre später an der Wiener Hofoper mit seiner Manon einen
durchschlagenden Erfolg erzielte, zeigte man sich in Wien interessiert, den
Werther dort zur Uraufführung zu bringen, allerdings auf Deutsch. Dafür
übersetzte Max Kalbeck das französische Libretto. Am 16. Februar 1892 erlebte
das Stück in Wien eine umjubelte Uraufführung, so dass das Werk ein Jahr später
schließlich doch an der - mittlerweile wieder aufgebauten - Opéra comique
herauskam und dort bis zum zweiten Weltkrieg insgesamt über 1000 Mal gespielt
wurde, natürlich in französischer Sprache, und diese französische Version setzte
sich auch in der weiteren Verbreitung der Oper durch.
Erste zarte Annäherungen: Charlotte (Iris Marie
Sojer) und Werther (Sangmin Jeon) (rechts: Johannes Witt mit dem
Sinfonieorchester Wuppertal im Hintergrund)
Das Libretto zur Oper, an dem insgesamt drei Librettisten gearbeitet haben,
unterscheidet sich von Goethes Briefroman vor allem in der Erzählstruktur.
Während im Roman alle Figuren nur durch Werthers Augen gesehen werden und man
folglich nie weiß, ob sie wirklich so sind, wie sie vom Erzähler beschrieben
werden, entwickeln sie in der Oper eine eigene Persönlichkeit, da sie auch in
Abwesenheit Werthers auf der Bühne agieren. Bei Massenet ist es nicht Charlottes
aufrichtige Liebe zu Albert, die dazu führt, dass sie sich Werthers Werben und
ihren Gefühlen für ihn widersetzt, sondern ein Versprechen, das sie ihrer Mutter
auf dem Sterbebett gegeben hat. Von diesem Schwur am Totenbett der Mutter ist
bei Goethe nur am Rande die Rede. Albert ist, anders als bei Goethe, kein
farbloser Beamter, sondern erkennt in Werther durchaus einen Rivalen für seine
Beziehung zu Charlotte. Wenn er folglich im dritten Akt Charlotte anweist,
Werther für seine Reise durch einen Diener die erbetenen Pistolen schicken zu
lassen, gewinnt er Züge eines klassischen Opernbösewichts. Neu bei Massenet ist
auch die Partie von Charlottes jüngerer Schwester Sophie, die bei Goethe gar
nicht vorkommt und ein nahezu soubrettenhaftes Gegengewicht zu den anderen
Figuren bildet. Etwas missglückt wirkt die Übertragung einer Szene aus Goethes
Roman, in der Werther und Charlotte ihre Seelenverwandtschaft über ein Gedicht
Klopstocks erkennen. In der Oper sind es nämlich nicht Werther und Charlotte,
die dieses Gedicht zitieren, sondern Brühlmann und Käthchen, ein anderes junges
Pärchen, das wie ein überflüssiger Fremdkörper im Ablauf der Handlung wirkt.
Werther (Sangmin Jeon) bedrängt Charlotte (Iris
Marie Sojer) (im Hintergrund: Johannes Witt mit dem Sinfonieorchester Wuppertal)
Die konzertante Aufführung wird von Videoprojektionen des Videokünstlers und
Bühnenbildners Momme Hinrichs unterstützt, der gemeinsam mit seinem Kollegen Torge Møller unter
dem Künstlernamen fettFilm agiert. Über dem Orchester ist in Form
eines riesigen Bilderrahmens eine Leinwand
angebracht, auf die eine Wiese projiziert wird, die in der
Mitte auf einer kleinen Erhebung von einem Baum dominiert wird. Dieser Baum
steht wohl für den Ort, an dem Werther nach seinem Selbstmord begraben werden
möchte. Zu Beginn der Ouvertüre handelt es sich noch um einen zarten Trieb, der
im weiteren Verlauf zu einem stattlichen Baum heranwächst. Die einzelnen Akte
gewähren nun eine unterschiedliche Sicht auf diesen Baum. Im ersten Teil sieht
man ihn von einer Veranda aus. Wenn im dritten Akt der Winter eingebrochen ist,
ist er durch ein Fenster in Charlottes Haus sichtbar. An der Wand auf der
linken Seite hängt ein Portrait von Charlottes Mutter, um zu zeigen, wie sehr
sie auch nach ihrem Tod noch Charlottes Handeln bestimmt. Wenn es dann im
letzten Akt zu Werthers Selbstmord kommt, sieht man den Baum durch ein Fenster
in Werthers Haus, wobei der Baum so schneebedeckt ist, dass man ihn kaum noch
erkennen kann. Über den Baum und die Wiese werden immer wieder die Schemen eines tanzenden
Paares gelegt. Dieses glückliche Bild aus vergangenen Tagen wird auch in der Musik hörbar, wenn Werther oder Charlotte an den glücklichen Abend
auf dem Fest im Sommer zurückdenken. Wenn Werther im zweiten Akt erstmals
seine Selbstmordabsichten andeutet, gerät die Projektion des Baumes durch
gewisse Brüche ins Wanken, und mit seinem Tod am Ende verschwindet der Baum.
Sangmin Jeon als Werther
Musikalisch bewegt sich die Aufführung auf hohem Niveau und lässt zusammen mit
den abwechslungsreichen und eindrucksvollen Projektionen vergessen, dass es sich
"nur" um eine konzertante Produktion handelt. Da ist zunächst einmal der koreanische Tenor Sangmin Jeon in der
Titelpartie zu nennen, der auch schon 2018 in dieser Partie das Publikum
begeisterte. Mit strahlenden Höhen und leidenschaftlichem Timbre
gestaltet er die Leiden des jungen Mannes. Absolut lyrisch gelingt sein erster
Auftritt, wenn er in "O nature pleine" noch voller Hoffnung die Schönheit der
ländlichen Idylle besingt und der wunderbare Sommertag mit dem Fest, zu dem er
Charlotte begleitet, für ihn den Höhepunkt der Glückseligkeit manifestiert. Voller Innbrunst
gesteht er Charlotte bei der Rückkehr im Mondenschein seine Liebe, wird von ihr
allerdings aus seinem Liebestaumel gerissen, da sie ihm gesteht, Albert heiraten
zu müssen. Mit bewegendem Spiel hängt er im zweiten Akt seinen Gedanken
über einen Selbstmord nach. Ein weiterer musikalischer Höhepunkt ist seine große Arie im dritten
Akt, "Pourquoi me réveiller", in der er ein Gedicht Ossians zitiert und
Charlotte erneut seine Liebe gesteht. Auch hier glänzt Jeon mit leuchtenden
Höhen und großer Leidenschaft. Beeindruckend gestaltet er auch Werthers
Sterbeszene im letzten Akt, wenn er in Charlottes Armen glückselig sein Ende
findet.
Iris Marie Sojer als Charlotte
Auch Ralitsa Ralinova und Simon Stricker waren bereits 2018 als Sophie und
Albert zu erleben und lassen auch bei der Neueinstudierung keine Wünsche offen.
Ralinova stattet Charlottes Schwester mit einem jugendlich frischen,
mädchenhaften Sopran aus und schafft es, mit ihren Auftritten das Stück aus der
jeweiligen Schwermut zu reißen. Simon Stricker verleiht dem Albert einen
dunklen, autoritären Bass und lässt ihn relativ gefühlskalt erscheinen. Iris
Marie Sojer debütiert in der Partie der Charlotte und reißt mit ihrem intensiven
Spiel und einem warm-timbriertem, relativ hellem Mezzosopran das Publikum zu
Begeisterungsstürmen hin. Während sie in den ersten beiden Akten in einem
schwarzen Kleid auftritt, was vielleicht noch die Trauer um ihre verstorbene
Mutter andeutet, tritt sie nach der Pause in einem feuerroten Kleid auf, das für
die fatale Leidenschaft steht, die sie in Werther entfacht hat. Auch wenn es
sich um eine konzertante Aufführung handelt, setzt Sojer die Partie nahezu
szenisch mit intensivem Spiel um. Ihre ganz großen Momente hat sie stimmlich und
darstellerisch im dritten Akt, wenn sie am Weihnachtstag Werthers Briefe liest
und sich ihrer Gefühle für ihn bewusst wird. Bewegend zeigt sie Charlottes
innere Zerrissenheit, wenn sie im Gebet Rettung sucht. Auch ihren inneren Kampf,
Werthers Drängen nicht nachzugeben, nimmt man Sojer in jedem Moment ab. Völlig
gebrochen wirkt sie dann, wenn sie Werther die Pistolen aushändigen lassen muss.
In Werthers Todesszene am Ende findet sie mit Jeon zu einer unter die Haut
gehenden Innigkeit.
Johannes Witt changiert mit dem Sinfonieorchester Wuppertal zwischen den
elegisch-wehmütigen Gefühlen des Werther und emotional aufwühlenden Tönen
und lässt das Publikum eine Achterbahn der Gefühle durchleben. Dabei arbeitet er
die einzelnen Stimmungen der Partitur wie beispielsweise die Mondscheinmelodie
als Leitmotiv differenziert heraus. So gibt es am Ende für alle Beteiligten
großen und verdienten Beifall, der vergessen lässt, dass bei dieser Vorstellung
einige Plätze frei geblieben sind.
FAZIT
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Produktionsteam
Musikalische Leitung Szenische Einrichtung Video Chor Dramaturgie
Sinfonieorchester Wuppertal Damen des
Opernchors der Kinder- und Jugendchor der Solistinnen und Solisten*Premierenbesetzung Werther Albert Charlotte Sophie Le Bailli, der Amtmann Schmidt Johann Brühlmann Käthchen Die Kinder des Amtmanns: Max Hans Karl Gretel Clara
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- Fine -