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Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
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Das politische Musiktheater lebt!
Von Ursula Decker-Bönniger / Fotos von Monika Rittershaus
Blick auf die Bühne in der 13.
Szene: die Stewardessen im Restaurant
(v.l.n.r.: Hedwig Fassbender (Die Ameise), Ein goldener Drache – männlich, dynamisch, aktiv. Symbol des chinesischen Kaiserhauses, des Glücks und der Friedfertigkeit. Das Musiktheater Der goldene Drache entstand in Kooperation mit der Oper Frankfurt und ist eine Auftragskomposition für das Ensemble Modern, Deutschlands anerkanntes, ebenfalls in Frankfurt beheimatetes Spezialensemble für zeitgenössische Musik. Die literarische Vorlage stammt vom meistgespielten, zeitgenössischen Dramatiker Roland Schimmelpfennig. Und der 1944 geborene, ungarisch-deutsche Dirigent und Komponist Peter Eötvös gehört ebenfalls zu den erfolgreichsten Musiktheaterkomponisten der Gegenwart. Eötvös kürzt zwar die 48 Szenen des ursprünglichen Dramas. Doch seine Musik bereichert das Werk um eine weitere Dimension. Sie kommentiert, zeigt Vernetzungen, latente Zusammenhänge und enthüllt psychologische Vorgänge. Thema ist die Rechtlosigkeit und Ausbeutung illegaler Einwanderer, der sogenannten Sans Papiers, für die einmal ausgereist selbst der Besuch ihrer Heimat zum Problem wird. Da verblutet ein Kleiner, der seine Schwester sucht, nachdem ihm in der Küche des „goldenen Drachen“ ein schrecklich schmerzender Zahn mit einer Rohrzange gezogen wurde. Da trauert ein Großvater über die Unmöglichkeit wieder jung zu sein und seine junge Enkeltochter über ihre ungewollte Schwangerschaft, während ihr Freund Hans eine Vergewaltigung anstiftet. Eine Frau über 60 erinnert sich an die fleißige, ausbeutende Ameise in La Fontaines Fabel und das grausame Schicksal der Grille. Eine Stewardess findet den kranken Zahn in ihrer Thai-Suppe und kann sich lange nicht von ihm trennen. Sieht man einmal von der Sopranistin ab, in der „die junge Frau“ und „der Kleine“ zu einer Figur verschmelzen, werden die 17 verbleibenden Figuren auf zwei Tenöre, einen Mezzosopran und einen Bariton verteilt und uns in 21 kurzen Szenen vor Augen geführt. Permanent und zeitlos verwandeln sich die Darsteller auf der Bühne, wechseln scheinbar orientierungslos ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre kulturelle Identität. Gemeinsam mit der Musik, den Kostümen, dem Bühnenbild entsteht ein musikalisches Sozialdrama über sexuelle und ökonomische Ausbeutung mit bunten, absurd grotesken Kunstfiguren, die tragisch, komisch, fantastisch und rätselhaft zugleich wirken und zutiefst menschlich berühren. Ruhe findet die tragische Wechselkomödie erst in dem anrührenden Monolog der vorletzten Szene, wenn der tote, bestattete Kleine seine Heimreise antritt. Vorbereitungen zur Selbstmedikation (v.l.n.r.: Hans-Jürgen Lazar (Der Mann über sechzig), Simon Bode (Der junge Mann), Kateryna Kasper (Die junge Frau; auf dem Tisch liegend) und Holger Falk (Der Mann)) Eötvös ist ein Mann des Films und des Theaters. Schon mit 16 Jahren beginnt er Filmmusik zu schreiben und bis zu seinem 60. Lebensjahr entsteht Musik zu mehr als 150 Filmen. Seine Bühnenwerke sind vielfältig. Dazu gehören eine Clowneske, drei Madrigalkomödien, eine Kammeroper, eine „Chinese Opera“ ohne Singstimme und eine groß besetzte Oper. Sein neustes Werk Der goldene Drache trägt den schlichten Untertitel „Musiktheater“. Zur Ouvertüre finden sich alle Beteiligten, Gesangs- und Instrumentalsolisten auf dem Bühnenpodest ein und improvisieren mit Wok, Holzlöffel, Topf, Rührschüssel, Suppenkelle und anderen Küchenwerkzeugen. Sänger und Instrumente sind verstärkt. Wie im Film bzw. Hörspiel entsteht eine enge Wechselwirkung zwischen Text und Musik. Mal wird die Szene mit stilisierten Lachgesten kommentiert, mal dampfen hörbar die Küchentöpfe, wird das Geschehen mit eher illustrierenden Klängen untermalt. Mal fließen atmosphärisch dichte Wellenbewegungen oder werden Sprech- bzw. Gesangsmelodien der Bühnenfiguren absurd, grotesk im Orchestergraben weitergeführt. Die Uraufführung dirigierte der Komponist selbst. Die musikalische Leitung der anschließenden Aufführungen übernimmt Hartmut Keil. 18 Instrumentalisten des Ensemble Modern scheinen -
neben ihren trocken humorvollen „Pause“- Einwürfen –
eine aktive, interpretierende Rolle einzunehmen,
eigene, berührende Klangbilder zu entwerfen, in
denen uns Eötvös’ Erfahrung, sein geniales Gespür für
ausdrucksvolle, musikalische Gesten und
Farbkombinationen vor Augen geführt wird.
Gesang und Instrumentalmusik vermischen sich in neuer,
ungekannter Weise. Eötvös spielt mit ausdrucksvollem
Sprechen, Sprechgesang und dramatischer Operngeste.
Und die fünf Gesangssolisten betören nicht nur
stimmlich, sondern ebenso mit auch humorvoll
überzeichneten, schauspielenden Gesten und
kontrastreichen Rollenwechseln. Allen voran Hedwig
Fassbender, bei der Sprach- und Gesangsmelodik
fließend ineinander übergehen und die als alte Köchin
und schwangere Enkeltochter ebenso überzeugt wie als
ausbeutende, brutale Ameise und Hans. Simon Bode
verfügt nicht nur über einen wohlklingenden, schlanken
lyrischen Tenor, ebenso faszinierend ist seine
Darbietung des Großvaters und der eingeschüchterten,
hungernden und verletzten Grille. Und
Hans-Jürgen Lazar und Holger Frank belustigen vor
allem als transsexuelle Stewardessen. Für die
erkrankte Kateryna Kasper übernimmt an diesem Abend
Sarah Maria Sun die Rolle des Kleinen, bzw. der jungen
Frau. Sie trägt ihre mit Glissandi und Koloraturen
versehenen Schmerzensschreie und den ebenso
berührenden Heimreise-Monolog vom Orchestergraben aus
vor, während Corinna Tetzel die szenische Seite auf
der Bühne verkörpert.
FAZIT Ein facettenreiches, faszinierendes Musiktheater, das ein neues, filmmusikalisches Licht auf das Gesamtkunstwerk Oper wirft
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie
Bühnenbild
Kostüme
Licht
Dramaturgie
Klangregie
Ensemble Modern Solisten*rezensierte Aufführung
Die junge Frau
(der Kleine)
Die Frau über
sechzig
Der junge Mann
Der Mann über
sechzig Der Mann
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© 2014 - Online Musik Magazin
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E-Mail: oper@omm.de
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