Orpheus und Orasia
Von Thomas Molke /
Fotos von Monika Rittershaus
Telemanns Oper Orpheus nimmt aus mehreren Gründen eine
Sonderstellung im Rahmen der zahlreichen Vertonungen des mythologischen Stoffes
über den berühmten thrakischen Sänger ein, der mit seinem zauberhaften Gesang
sogar Steine bewegt haben soll. Zum einen galt dieses Werk lange Zeit
fälschlicherweise als Pasticcio, weil die fremdsprachigen Texte aus Opern von
Händel, Lully und Pallavicino stammten. Dabei war allerdings die Musik zu den italienischen Arien
oder französischen Chorszenen keineswegs bei den genannten Komponisten
abgeschrieben worden. Vielmehr setzte Telemann diesen Stilmix ganz bewusst
ein, um entweder die Affekte einer Figur mit einer emotionsgeladenen
italienischen Arie im Stil der Opera seria zum Ausdruck zu bringen oder den
tragischen Ton einer französischen Tragédie lyrique einzufangen. Zum
anderen führt er mit Orasia eine fiktive thrakische Königin ein, die nicht der
Mythologie entstammt. Als das Werk zehn Jahre nach seiner konzertanten
Uraufführung 1726 am Theater am Gänsemarkt erstmals szenisch zur Aufführung
gelangte, änderte Telemann sogar den bisherigen Titel in Die rachbegierige
Liebe oder Orasia, verwitwete Königin von Thracien, womit der Stellenwert
dieser Figur für das Werk noch einmal deutlich hervorgehoben wurde.

Die thrakische Königin Orasia (Elizabeth Reiter)
überlegt, wie sie den Sänger Orpheus für sich gewinnen kann (im Hintergrund:
Konzertchor Darmstadt).
Anders als im Mythos oder den bis dahin erschienen Vertonungen des Stoffes steht
bei Telemann nämlich eigentlich nicht die Liebe zwischen Orpheus und Eurydike im
Zentrum der Handlung, sondern die unerfüllte Liebe Orasias zu dem thrakischen
Sänger. Da dieser jedoch mit Eurydike verheiratet ist und das Werben der Königin
zurückweist, beschließt diese, Eurydike zu töten, indem sie sie auf eine
Schlange treten lässt. Wenn Orpheus dann in die Unterwelt geht, um Eurydike
zurückzugewinnen, wartet sie am Tor der Unterwelt, um Eurydike gegebenenfalls
erneut zu töten, falls es Orpheus gelingen sollte, sie aus den Fängen des Todes
zu befreien. Als Orpheus allerdings allein zurückkehrt, da er dem Gebot des
Gottes der Unterwelt nicht Folge geleistet hat und sich auf dem Weg zurück auf
die Erde aus Sehnsucht und Sorge nach seiner geliebten Eurydike umgedreht hat,
Orasias Werben aber immer noch zurückweist, hetzt sie die Bacchantinnen auf
Orpheus, die den Sänger ermorden. Erst jetzt erkennt die Königin, dass sie mit
dem Tod des Orpheus die beiden Liebenden in der Unterwelt erneut zusammengeführt
hat, und nimmt sich ebenfalls das Leben, um in der Unterwelt den Kampf um
Orpheus wieder aufzunehmen.

Eurydikes (Katharina Ruckgaber) Tod
Das Libretto der
Oper ist zwar vollständig, die Instrumentierung allerdings nur fragmentarisch
erhalten, so dass der musikalische Leiter Titus Engel gemeinsam mit dem
Regie-Team um Florentine Klepper basierend auf der Fassung, die der
Telemann-Experte Peter Huth in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts für
Innsbruck erstellt hat, eine Version erarbeitet hat, die sich zwar nicht an der
historischen Aufführungspraxis orientiert, die von Telemann intendierten
unterschiedlichen Klangwelten aber dennoch auf eine sehr moderne Art sorgfältig
herausarbeitet. Besonders deutlich wird dies in den Rezitativen, die je nach
Klangfarbe des jeweiligen Aktes von dem Gitarristen Johannes Öllinger auf unterschiedlichen Instrumenten begleitet werden. Während Öllinger
den ersten Akt mit einer klassischen Gitarre gestaltet, verwendet er für den Akt
in der Unterwelt eine E-Gitarre und für den letzten Akt eine Barocklaute.
Abgesehen von den verwendeten Instrumenten weist die Begleitung der Rezitative
in den einzelnen Akten auch noch weitere moderne Elemente auf. So wird bereits
der Dialog zwischen Orasia und ihrer Vertrauten Cephisa im ersten Akt mit einer
Rhythmik untermalt, die für die Barockoper zwar völlig fremd klingt, dem
gesungenen Text allerdings mehr als gerecht wird. Auch auf große Da-capo-Arien
wird zugunsten eines stringenten Handlungsablaufs verzichtet, so dass die Oper
in der gekürzten Fassung gerade mal 100 Minuten ohne Pause dauert.
Für die einzelnen Akte nutzt die Bühnenbildnerin Adriane Westerbarkey die
lokalen Gegebenheiten des Bockenheimer Depots optimal aus, um die Atmosphäre in
den einzelnen Szenen einzufangen. Der thrakische Königshof wird in einem schräg
angelegten länglichen Raum mit zahlreichen Blumen, alkoholischen Getränken und
Geschenken im Überfluss als eine moderne Spaßgesellschaft angelegt. Mit
großartigem Spiel stellt der Konzertchor Darmstadt während der musikalischen
Einleitung eine vergnügungssüchtige oberflächliche Gesellschaft dar, der die
Königin Orasia zu entfliehen versucht, um Luft zum Atmen zu finden. Orpheus und Eurimides
treten in dieser Gesellschaft als Gesangsduo auf und erinnern im Stil schon beinahe an einen "Musikantenstadl". Orpheus
gefällt sich in dieser Gesellschaft als Künstler, sucht sein Heil aber dennoch
in der Abgeschiedenheit. Seine Liebe zu Eurydike erkennt man erst nach ihrem
Tod. Eurydike selbst ist in dieser Gesellschaft eine Außenseiterin, die von der
Seitenbühne auftritt. Aus einer grauen Hütte holt Orasia die Schlange, die
Eurydike mit ihrem Biss tötet.

Orpheus' (Sebastian Geyer) Gang in die Unterwelt
(auf der linken Seite: Ascalax (Dmitry Egorov))
Für das Bild der Unterwelt öffnet sich
dann der Raum in eine unendliche schwarze Tiefe, die mit roten Fäden mehreren
Leitern und Stegen ein unheimliches Labyrinth darstellt. Pluto erscheint auf
einer Leiter mit verlängerten Beinen als eine riesige Gestalt, die über Orpheus
und den schwarzen Schatten, deren Gesichter durch Tücher bedeckt sind, thront.
Sein Diener Ascalax wirkt mit den zahlreichen Pfeilen in seinem schwarzen Gewand
und den Krücken als ein geschundenes Wesen, das dem Herrn der Unterwelt völlig ergeben
ist. An einem roten Band übergibt dieser Diener Orpheus die Geliebte und
erlegt ihm das Gebot auf, sich frühestens auf der Erde nach seiner Gattin umzudrehen.
Orpheus betört den Gott der Unterwelt weniger durch seinen Gesang als
vielmehr durch das Spiel auf der Traversflöte, wodurch Pluto dem Wunsch des
Orpheus nachgibt und regelrecht von der Musik übermannt von Ascalax von der
Bühne gezogen wird. Wenn Orpheus dann mit Eurydike in den Bühnenhintergrund
verschwindet, taucht er später auf der rechten Seite zwischen hochragenden
Bäumen wieder auf, während Eurydike sich noch auf dem Steg im Bühnenhintergrund
befindet. Jetzt dreht sich Orpheus um, kann aber so noch nicht einmal einen
Blick auf Eurydike erhaschen, die traurig in die Unterwelt zurückkehrt.

Orpheus (Sebastian Geyer) trauert, weil er seine
geliebte Eurydike erneut verloren hat (im Hintergrund: Statisterie).
Der dritte Akt wirkt, was Orasia und Orpheus betrifft, szenisch zunächst
wie eine Wiederholung des ersten Aktes. Wieder verlässt Orasia das Haus, weil
ihr die Luft zum Atmen fehlt, wieder tritt sie in ihrer Raserei in die Scherben
eines zuvor zu Boden geworfenen Glases und muss sich von ihrer Vertrauten
Cephisa verarzten lassen. Wieder steht Orpheus melancholisch an der grauen Hütte
und weist Orasia von sich. Nur dieses Mal beschließt Orasia, den Sänger selbst
zu töten, und ruft die Bacchantinnen herbei. Der Raum wirkt jetzt wie eine
Mischung aus Unterwelt und dem ersten Akt. Die Kostüme der Bacchantinnen drücken
mit ihren Raubtiermustern die Brutalität dieser Frauen aus, die den Sänger
zerstören werden. Blutüberströmt liegt Orpheus dann am Ende auf dem Boden,
während sich erneut der Bühnenhintergrund für die Unterwelt öffnet und Orasia
langsam auf einem Steg in den hinteren Teil entschwindet.
Neben der packenden szenischen Umsetzung kann der Abend auch musikalisch in
jeder Hinsicht überzeugen. Elizabeth Reiter begeistert als Orasia
mit großartigen Koloraturen und einer enormen Bühnenpräsenz. Dabei entwickelt sie
sich glaubhaft von einer rücksichtslos liebenden Frau zu einer
rachsüchtigen Furie. Sebastian Geyer stattet den Orpheus mit kräftigem Bariton
aus. Katharina Ruckgaber verfügt als Eurydike über einen lieblichen Sopran, der
wunderbar zu ihrem Rollenprofil passt. Maren Favela und Julien Prégardien geben
ein stimmlich überzeugendes Dienerpaar ab, das allerdings nicht zueinander finden
kann, da Cephisa sich nicht an einen Mann binden will. Vuyani Mlinde überzeugt
als Pluto mit schwarzem Bass, der zunächst hart und unerbittlich klingt, bis er
sich von Orpheus' Musik regelrecht einlullen lässt. Dmitry Egorov stattet seinen
Diener Ascalax mit weichem Countertenor aus. Johannes Öllinger avanciert mit
seinen ungewöhnlichen Begleitungen der Rezitative zum Publikumsliebling und
erntet ebenso wie das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter der Leitung
von Titus Engel, der von Wolfgang Seeliger einstudierte Konzertchor Darmstadt
und das Regieteam frenetischen Premieren-Applaus.
FAZIT
Diese Produktion dürfte szenisch und musikalisch zu einer der spannendsten
Inszenierungen dieser Spielzeit zählen, die man als Barockfreund keinesfalls
verpassen sollte. Wenn man noch keinen Zugang zur Barockmusik hat, könnte diese
Produktion die Begeisterung für diese Gattung wecken.